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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Fiolka
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Ausführungen an und schwieg dann. Trotz der Unverrückbarkeit ihrer Entscheidung hielt sie ängstlich die Luft an, während Stephanos zu überlegen schien. Die Schmähung der Göttin hatte sie ihm bisher verschwiegen. Überraschenderweise tadelte Stephanos sie nicht für die Taten ihrer Vergangenheit. Stattdessen zog er sie an sich und küsste sie auf das Haar. „Du warst sehr jung und hast nur Schlechtes erlebt. Wie hättest du den Göttern nicht zürnen sollen, denn sie hätten das alles doch verhindern können. Ich halte es für einen guten Gedanken, Athene noch einmal ein Opfer zu bringen und ihr Phano zu zeigen. Athene ist weise und wird dir verzeihen. Es ist an der Zeit, dass du etwas anderes siehst als unser Haus. Das Leben, das ich dir biete, ist nicht leicht für dich, das weiß ich.“
    In diesem Augenblick erkannte Neaira, dass sie Stephanos trotz seiner lauen Gefühle und der Nachsichtigkeit was seine Söhne anging, liebte. Er schätzte sie nicht gering für ihren Wunsch, sich frei zu bewegen und am öffentlichen Leben teilzuhaben.
    Als sie am nächsten Tag mit Thratta, die Phano auf dem Arm trug, in einen schlichten Peplos mit Mantel gehüllt und einem Schleier vor dem Gesicht den Eselskarren bestieg, hatte Neaira beschlossen, Athene auch für Stephanos ein Opfer zu bringen. Obwohl Thratta ihr gesagt hatte, dass ihr Name auf Nachfragen nirgendwo Erkennen hervorgerufen hatte, war sie aufgeregt und ängstlich.
    Neairas Sinne, die sie bereits für abgestorben gehalten hatte, erwachten, sobald sie die Agora mit ihrem Leben, ihren Düften, ihrem Geruch nach Schweiß und all jenen Dingen betrat, die sie seit ihrer Kindheit begleitet hatten.
    Erinnerungen an Zeiten, in denen sie in kostbaren Gewändern und allerlei Schmuck voller Stolz und Selbstvertrauen durch die Straßen gegangen war, wurden in ihr wach. Neairas Gefühle fraßen sich aus der Abgeschiedenheit ihres Herzens hervor wie Maulwürfe. Sie sah an ihrem schlichten Peplos hinunter und zog sich den Schleier fest vor das Gesicht. So ist es besser, ich darf mich nicht den Lügen der Vergangenheit hingeben , dachte sie und wandte sich den Verkaufsständen zu. Neaira kaufte für sich und Thratta eine Handvoll Datteln, die sie aßen während sie hier und dort an den Ständen stehen blieben um sich Tücher, Schmuck oder andere Gerätschaften anzuschauen.
    „Früher hätte ich mir das alles wahllos kaufen können ..
    ein Tuch hier, eine Halskette dort ... oder den ganzen Stand. Ich hätte nicht einmal darüber nachgedacht, ob ich all diese Dinge brauche“, bekannte sie Thratta gegenüber, während ihre Finger über einen feinen Stoff fuhren. Sie verbrachten fast den gesamten Vormittag auf der Agora und besuchten erst am frühen Nachmittag die Akropolis mit dem Tempel der Pallas Athene. Die weißen Stufen, die sie so oft hinauf und hinabgegangen war, verursachten bei Neaira ein Gefühl der Beklommenheit. Unschuldig und rein lagen sie im Sonnenlicht, als würde Neaira sie heute zum ersten Mal hinaufgehen. Wie viele Leben habe ich bereits gelebt, Athene? In jedem habe ich deinen Tempel besucht, und jedes Mal hast du mich abgewiesen. Zuerst als Kind an der Seite Philostratos, dann als junge Frau als ich in Phrynions Haus gelebt habe. Sie straffte die Schultern, dann nahm sie die erste Stufe. Heute würde Athene ihr verzeihen – heute würde sie alles wiedergutmachen, was sie in der Vergangenheit falsch gemacht hatte. Neaira achtete auf die Gesichter der Menschen, suchte nach Blicken des Erkennens, doch die vorbeigehenden Athener zeigten nur Gleichmut. Selbst die unscheinbaren Gattinnen, die ihre Opfer in den Tempel brachten, schenkten ihr keinen Blick. Niemand erkannte sie, und Neaira ahnte, dass sie ebenso farblos war wie sie.
    Die Hetäre Neaira war verschwunden, geblieben war einfach Neaira. Zwischen Dankbarkeit und Traurigkeit schwankend brachte Neaira Athene ihr Opfer dar und bat sie um Verzeihung, dass es nur ein paar Obolen waren, anstatt Trinkschalen aus purem Gold. Mit ehrlicher Reue hob sie Phano vor das steinerne Antlitz Athenes und bat die Göttin, ihr um des Kindes willen zu vergeben und um des Mannes willen, der sie mit Achtung behandelte. Als sie ihr Gebet beendet hatte, fühlte sie sich frei von jener alten Schuld der Göttin gegenüber, die sie so lange mit sich herumgetragen hatte. Neaira öffnete die Augen und sah Athene ins Gesicht. Lächelte sie oder war es nur ihr Herz, das lachte?
    Der Weg die Tempelstufen hinunter fiel ihr leicht.

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