Der Gesang des Satyrn
schicken. Neaira kannte den Mann, der ab und an bei Stephanos vorbei schaute, obwohl Stephanos sie stets von diesen Gesprächen ausschloss. Er war erst vor Kurzem nach Athen gekommen, wo er hoffte, sein Glück und einen Lebensunterhalt zu finden. Neaira ahnte, als er Phrynion mit recht ungeschickten Worten und großspurigem Getue zu drohen versuchte, dass ihm dieses Glück in Athen nicht zuteilwerden würde. Phrynions Reichtum und seine Art zu sprechen verunsicherten ihn sichtlich. In seinem Gesicht war jeder Gedanke zu lesen, als hätte er ihn sich mit Tinte auf die Stirn geschrieben. Phrynion blieb, wie Neaira es erwartet hatte, ruhig und teilte dem Vermittler mit, dass er Neaira gerne zurückschicken würde, wenn Stephanos sich bereit erkläre, ihm den Wert der Gegenstände zu ersetzen, die Neaira einst aus seinem Haus gestohlen hatte und zusätzlich die tausend Obolen, die er für ihre Freilassung beigesteuert hatte. Während er den Mann auf seinem sündhaft teuren Marmorboden stehen ließ, ohne ihm einen Platz anzubieten, ließ Phrynion sich von einem Sklaven die Schatulle bringen, in der er Neairas Freilassungsurkunde aufbewahrte. Er zeigte sie dem Vermittler, der sich in Anbetracht der neuen Erkenntnisse um einiges freundlicher von Phrynion verabschiedete, als er ihn begrüßt hatte. „Ich werde dem Herrn Stephanos unterbreiten was du mir gesagt hast“, sagte er zum Abschied und bedachte Neaira mit einem unfreundlichen Blick.
„Hätte er gebellt und mit dem Schwanz gewedelt würde ich meinen, ein Hund wäre gerade durch mein Haus gelaufen“, bekannte Phrynion heiter, als er fort war.
Neaira verzagte. Den Preis, welchen Phrynion dem Mann für ihre Freilassung genannt hatte, konnte Stephanos nicht zahlen. Sie hoffte dennoch, dass er sich nicht auf die Drohungen einlassen würde und ihren Fall vor Gericht brachte. Immerhin hatte er ihr versprochen, sie vor Phrynion zu beschützen. Stephanos war vielleicht nicht reich, doch ein solcher Trottel wie sein Vermittler war er nicht. Phrynion ließ eine Mahlzeit für sie beide bereiten.
Ehe Neaira sich versah, fühlte sie sich erneut in die Vergangenheit zurückgestoßen. Obwohl sie sich geschworen hatte nichts anzurühren griff sie zu, während Phrynion ihr amüsierte Seitenhiebe verpasste. „Was esst ihr dort in dem kleinen Häuschen? Das Gras aus dem Hof oder die Rinde von den Bäumen? Man könnte meinen, du hättest seit Monden ausschließlich von den wenig nahrhaften Quellen deiner Liebe gezehrt.“ Er lachte über seinen eigenen Scherz, während Neaira ihn anfunkelte, ohne von den Leckereien abzulassen. Elende dumme verräterische Gier in meinem Herzen. Er kennt mich so gut, jedes Laster und jede Begehrlichkeit meiner Gedanken. Neaira hätte ihm das knusprige Fleisch des gebratenen Siebenschläfers gerne ins Gesicht geworfen. Statt dessen biss sie hinein und meinte vor Wonne sterben zu müssen. Sie hungerte nicht bei Stephanos – aber die Gaumenfreuden vergangener Zeiten vermisste sie wie den sorglosen Reichtum ihres alten Lebens.
Nach dem ausschweifenden Mahl warteten sie noch eine Weile, doch der Vermittler kehrte nicht zurück.
„Vielleicht muss Stephanos erst durch die ganze Polis laufen und Geld eintreiben, damit er seinen Vermittler bezahlen kann“, ärgerte Phrynion sie weiter. Er wollte sie herausfordern, doch Neaira bot ihm keine Angriffsfläche und schwieg. Zu später Stunde fragte Neaira, ob sie sich in die Frauengemächer zurückziehen dürfe, da sie müde sei.
Phrynion erlaubte es ihr, während er selber wach blieb und dem Wein zusprach. Neaira hörte erst gegen Morgengrauen, wie er in seinen Räumen verschwand.
Obwohl sie kaum Schlaf fand, war Neaira am nächsten morgen früh wach. Auf keinen Fall wollte sie den Vermittler verpassen. Sie musste wissen, was Stephanos zu tun gedachte.
Der Vermittler erschien mit am späten Vormittag, gab sich betont freundlich und unterbreitete Phrynion das Angebot, auf eine Klage zu verzichten und sich stattdessen einem Schiedsspruch zu stellen. Phrynion lächelte über diesen Vorschlag, zeigte er ihm doch, dass Stephanos nicht dazu imstande war, den geforderten Preis für Neaira aufzubringen.
„Dann soll jeder von uns einen Schiedsmann bestimmen, der seine Sache vertritt, und ein Dritter muss gefunden werden, der uns beiden genehm ist. Stephanos mag bestimmen, wo wir uns treffen, um diese leidvolle Sache zu bereinigen.“ Phrynion tat großmütig, und der einfältige Vermittler ließ sich von seiner
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