Der Gesang des Satyrn
Schlag in den Magen über Neaira herein. Nichts hat sich verändert, rein gar nichts! Sie stieß 425
mit dem Fuß gegen eine Weinschale, die achtlos auf dem Boden lag. Anscheinend hatten die Sklaven die Spuren von Phrynions letztem Fest noch nicht beseitigt. Neaira sah sich um, entdeckte Phrynion jedoch nicht. Sie wandte sich zu ihrem Bewacher um. „Und was jetzt?“
„Wir warten“, gab dieser knapp zu verstehen und wies sie an sich auf eine der Klinen zu setzen. Neaira gehorchte, ohne es sich jedoch bequem zu machen. Es waren die gleichen Klinen, auf denen sie früher mit Phrynion gelegen hatte. Sklaven erschienen und entzündeten Lampen und Feuerbecken, räumten die Reste des letzten Festes fort und brachten Neaira eine Schale mit Wein. Angespannt zwang Neaira sich nicht daran zu denken, wie gut dieser Wein schmeckte. Wie lange hatte sie keinen so erlesenen Wein mehr gekostet. Zum Tartaros mit Phrynions Wein! Als es dunkel wurde, hörte sie endlich, wie die Tür zu Phrynions Räumen geöffnet wurde. Ihr Bewacher wandte sich um, doch Neaira zwang sich stur geradeaus zu schauen. Wenn sie ihn ansah, würde der Schmerz zurückkehren, das Begehren, die Angst, all die verwirrenden Gefühle, und ihr kleines lauwarmes Leben würde erkalten. Er würde es einfach wegspülen als wäre es niemals da gewesen.
Phrynion musste dem Soldaten ein Zeichen gegeben haben, denn dieser erhob sich und verließ das Andron ohne Neaira noch einmal zu grüßen.
„So sehen wir uns also wieder“, vernahm sie Phrynions vertraute Stimme hinter sich, die ihr einen kühlen Schauer über den Rücken jagte. Er sprach leise und beherrscht, doch Neaira wusste, dass seine Beherrschung eine einzige Lüge war. Noch immer wollte sie sich nicht umdrehen und ihn ansehen, da sie Angst hatte, dass die Vergangenheit sie hinab in den Tartaros ziehen würde. „Was willst du von mir, Phrynion? Die Dinge, die ich aus deinem Haus mitgenommen habe und die einem reichen Mann wie dir kaum fehlen dürften? Ich habe sie nicht mehr.“
„Du weißt ganz genau, dass es mir nicht um diese lächerlichen Kleinigkeiten geht, ich sie jedoch als Grund nutzen werde mir das zurückzuholen, was mir wirklich abhandengekommen ist ... meinen kostbarsten Besitz – dich, Neaira!“ Sie konnte die Belustigung in seiner Stimme hören. „Wie hat dir mein Wein geschmeckt? Ich kann mir vorstellen, dass du einen solch erlesenen Geschmack lange entbehren musstest.“
Seine Schritte wurden lauter als er um sie herum ging und dann plötzlich vor ihr stand. Neaira erwachte wie aus einem Traum und war bemüht, ihren Schrecken nicht zu zeigen. Es war Phrynion, der vor ihr stand, in einen kostbaren Chiton mit goldenen Schulterspangen gekleidet, das Lächeln schmallippig und geheimnisvoll. Aber trotzdem war er nicht der Mann, den sie in Erinnerung hatte. Phrynions Augen funkelten in der ihm eigenen Leidenschaft, und sein Gesicht ließ die ehemals ebenmäßigen Züge eines schönen Mannes erkennen. Doch was von seiner Schönheit übrig war, entsprach lediglich einem Zerrbild, einer vagen Ahnung jener Schönheit, welche dieses nunmehr verlebte Gesicht besessen hatte. Er musterte sie unverhohlen. „Die Zeit war gnädig mit dir, obwohl du, wie ich hörte, ein Kind hast.“
„Zu dir war sie nicht gnädig“, antwortete Neaira in einer Mischung aus Mitleid und Zorn, die er mit einem spöttischen Lächeln erwiderte.
„Schwelgen und untergehen ... das war immer der Sinn meines Lebens, auch während du fort warst. Aber das war es nicht, was mich zerstörte, Neaira. Du warst es, deine Abwesenheit, deine Flucht! Ich habe dir alles gegeben, habe mich dir offenbart, und du hast mich zerstört.“
„Das ist nicht wahr“, antwortete sie. Doch für sein Empfinden hatte sie genau das getan – ihn verraten und verlassen. „Du zerstörst dich selbst ... das hast du schon immer getan, und ich wollte mich nicht von dir in den Tartaros zerren lassen.“ Neaira betrachtete seine schlaffen Wangen und die Tränensäcke unter seinen Augen.
Phrynion hob in einer theatralischen Geste die Hände und ließ sich dann auf einer Kline ihr gegenüber nieder.
Obwohl er seine Schönheit eingebüßt hatte, besaß er noch immer die Eleganz der Überheblichkeit. Neaira wagte nicht, es sich bequem zu machen. Es wäre einem Ergeben in ihr Schicksal gleichgekommen, wenn sie sich in diesem Haus Bequemlichkeit erlaubte. „Was hast du nun vor?“, fragte sie stattdessen. Phrynion winkte einem seiner Sklaven, ihm Wein
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