Der Gesang des Satyrn
gehen. Es war beinahe, als hätte der Kampf um sie seine Lebenskraft ausgemacht.
Als Phrynion eines Morgens aufwachte und die Kline nass von seinem Wasser war, verzog er angewidert Augenbrauen und hatte Mühe, sich mit seinem massigen Leib aufzusetzen. Neaira fand ihn, als sie ins Andron kam, wo er nachts eingeschlafen war. Sie befahl den Sklaven, ihm beim Wechseln seiner Kleider zu helfen und dann die verschmutzen Polster der Kline zu säubern. Als Phrynion sie ansah, erinnerte er Neaira an einen alter Kater, dessen Rücken krumm war und der sich nicht erklären konnte, warum er nicht mehr umherspringen und jagen konnte.
Wann hatten sich seine morschen Knochen gegen ihn gewendet ... er wusste es nicht, doch er wusste in diesem Augenblick, dass er nie mehr auf die Jagd gehen konnte.
„Es wird wohl langsam Zeit für mich“, sagte Phrynion leise, bevor er sich von seinen Sklaven in seine Räume bringen ließ. Neaira fing einen Blick von ihm auf, der sie erschreckte, da er so anders war als jene, die sie von ihm kannte. Es war Traurigkeit, die sie in seinen Augen gesehen hatte. Was hätte sie für das geheimnisvolle Funkeln in seinen Augen gegeben, für das hinterlistige Lächeln ... für nur ein einziges böses Wort ... jetzt, in diesem Augenblick sollte Phrynion sich umdrehen und sie spöttisch anlächeln, weil er sie wieder einmal in einen gemeinen Hinterhalt gelockt hatte. Aber er tat es nicht und verschwand gestützt auf zwei Sklaven in seinen Räumen. Kurzerhand beschloss Neaira ab sofort darauf zu achten, dass er nicht zu viel trank. Ich sollte ihn in seinem eigenen Dreck liegen lassen, aber ich bin nur eine Frau mit dummen Erinnerungen und dem Glauben an das, was hätte sein können , rechtfertigte sie ihr Verhalten vor sich selbst.
Neaira wies die Sklaven am Abend an, ein leichtes Mahl zu bereiten und den Wein mit viel Wasser zu verdünnen.
Sie bemühte sich unterhaltsam und freundlich zu sein, was Phrynion tatsächlich zum Lachen brachte. Er war ebenso einsam wie sie, aber Neaira verstand es nicht. Wie konnte aus ihnen beiden, die von so vielen begehrt worden waren, so etwas werden? W ie hatten wir jemals einsam werden können?
Erschüttert betrachtete sie Phrynion, während sie immer wieder die Schönheit seiner Jugend in ihren Erinnerungen heraufbeschwor.
„Kannst du dich erinnern, wie wir gelebt haben, als du mich aus Korinth nach Athen begleitet hast? Wir kannten keine Reue und keine Zurückhaltung“, sinnierte er müde, jedoch mit aufglimmender Leidenschaft in der Stimme.
„Ich weiß es noch sehr gut“, antwortete Neaira, während sie sich eine Traube in den Mund schob. Wie lange war es her, wie fremd kamen ihr jene beiden Menschen vor, die mit so viel Kraft und Glauben aneinander nach Athen gekommen waren.
„Lass uns an diesem Abend unsere Weinschalen auf die Vergangenheit erheben“, sagte Phrynion plötzlich in der alten ihm eigenen Feierlaune. Neaira war froh, dass sie ihn von seinen trübsinnigen Gedanken hatte ablenken können.
Bis spät in die Nacht blieben sie im Andron, lachten über ihre schönen Erinnerungen und vermieden es, die unschönen anzusprechen. Warum konnte es nicht früher so sein? Wir hätten glücklich werden können , dachte Neaira, als sie den zerstörten Mann auf der Kline vor sich sah, und erinnerte sich einmal mehr des leidenschaftlichen Liebhabers mit dem geheimnisvoll schönen Gesicht, der er einst gewesen war. Die Nacht besaß einen seltsamen Zauber, eine Wehmut, die sie beide nicht beenden mochten. Erst früh am Morgen erhob sich Phrynion schwerfällig von der Kline. Wie er vor ihr stand und sie ansah, gründlich, als wolle er sich immer an dieses Bild von ihr erinnern, war Neaira auf einmal wieder das kleine Mädchen, das dem geheimnisvollen Fremden in Nikaretes Haus begegnet war.
„Ich habe Stephanos Aufstieg und Wohlstand ermöglicht und damit dein Leben zerstört“, begann er mit einem Male ernst geworden zu sprechen. „Aber ich kenne dich, Neaira. Wenn er der arme Hungerleider geblieben wäre, wärst du ihm früher oder später davongelaufen.“
Warum sah er sie so an, mitleidig und liebevoll?
„Du denkst, ich hätte Stephanos den Aufstieg ermöglicht, um dich von ihm fortzulocken. Zum Teil stimmt das. Ich hatte gehofft, dass du dich von ihm abwendest und dich in meine Arme wirfst. Aber als du es nicht getan hast, habe ich nicht aufgehört, ihn zu unterstützen. Weißt du weshalb, Neaira?“ Phrynions Hand fuhr über ihre Wange, strich ihr das
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