Der Gesang des Satyrn
Haar aus dem Gesicht und zog sich dann unvermittelt zurück, so als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt. „Was wäre aus meiner verwöhnten Hetäre geworden, wenn ich einmal nicht mehr bin? Wer hätte dir schönen Schmuck und Kostbarkeiten zu Füßen gelegt, wer hätte im Alter für dich gesorgt?“
Phrynion machte alles zunichte, das solide Gerüst des Hasses und der Feindschaft, das sie so mühselig aufgebaut und das sie lebendig gehalten hatte. Neaira wollte protestieren, ihn dazu bringen, dass er etwas Boshaftes sagte, doch er sprach schon weiter. „Denke nicht, ich sei nur schlecht gewesen. Auch ich habe ein paar gute Seiten – es sind nicht viele, das gebe ich zu, aber ...“ Er verstummte, als hätte er zu viel von sich preisgegeben. Neaira fühlte ihr Herz rasen. Nach all den Jahren ließ Phrynion sie endlich an seinen Gedanken teilhaben. Sie wollte etwas erwidern, wusste jedoch nicht was sie hätte sagen sollen. Phrynion sah sie an, dann wandte er sich um und wünschte ihr eine gute Nacht. Der Augenblick seiner Offenbarung war vorbei. Neaira war froh, dass er kaum taumelte. Der mit Wasser verdünnte Wein hatte seinen Zweck erfüllt. Von nun an würde sie darauf achten, dass er keine zu fettreichen Speisen aß und nicht zu viel trank. Vielleicht, so hoffte sie in diesem Augenblick, kann ich dafür sorgen, dass sein Gemüt und sein Leib sich erholen . Sie hatte ihn einmal geliebt ... und sie hatte nie ganz damit aufhören können. Vielleicht sollte sie ihm das sagen, jetzt, da er so offen mit ihr gesprochen hatte. In hoffnungsvoller Stimmung ging Neaira in ihre eigenen Gemächer. Die Sklavinnen halfen ihr beim Auskleiden und deckten sie mit ihren Laken zu. Die erste Nacht seit langem schlief sie ruhig und tief, ohne Angst und böse Träume.
Es war eine der Sklavinnen, die sie am frühen Mittag weckte und vor ihr auf die Knie fiel. Neaira, noch schlaftrunken, wusste das vollkommen verstörte Mädchens zuerst nicht einzuordnen. Dann fiel ihr ein, dass sie Phrynions Morgenmahl bereitete. „Herrin, es tut mir leid dich zu wecken, aber es ist so schrecklich ... so furchtbar!“
Mit steifen Gliedern richtete Neaira sich auf und sah das Mädchen an. „Was ist denn? Ist etwas mit dem Herrn geschehen? Geht es ihm nicht gut?“ Sie war schon dabei aufzustehen, als das Mädchen flüsterte: „Er ist tot, Herrin!“
Die Worte der Sklavin ließen sie schwindeln. Neaira packte das Mädchen am Chiton und zog sie zu sich. „Was redest du da? Ich habe doch gerade erst mit ihm gesprochen!“ Es war erst wenige Stunden her, dass sie zusammen gespeist hatten. Phrynion hatte sich wieder einmal einen boshaften Scherz mit ihr erlaubt, so musste es sein.
„Aber Herrin, glaub mir doch, der edle Herr ist tot!“
Die Bilder der vergangenen Nacht, in welcher Phrynion sie ein winziges Stück näher an ihr Herz gelassen hatte, tauchten vor Neairas innerem Auge auf. Das war also sein letzter grausamer Plan gewesen; ihr Herz zu erweichen und dann einfach zu gehen, damit sie sich für den Rest ihres Lebens fragen müsste, ob sie ihn nicht doch mehr geliebt als gehasst hatte! Mit weichen Knien kam sie auf die Beine, winkte dem Mädchen voranzugehen und folgte ihr. Neaira machte sich nicht die Mühe, das Nachtgewand abzulegen oder ihr Haar zu kämmen. Wofür und für wen? Er würde es nicht sehen. Aphrodite ... er wird es nie mehr sehen! Mit nackten Füßen eilte sie der Sklavin hinterher.
Phrynion lag auf seinem Ruhelager, bedeckt mit einem Laken, das aufgeschwemmte Gesicht weiß und fahl, die Augen geschlossen. Neben seiner Schlafkline lag eine umgestürzte Weinschale. Neaira nahm sie auf, und ein schwacher Mäusegeruch stieg ihr in die Nase. Sie schleuderte die Schale von sich, als wäre sie ein ekelerregendes Tier. Einer der Sklaven, es war der Jüngling, der sein Lager geteilt hatte, wies ängstlich auf die Scherben, da er eine Bestrafung für seine Nachlässigkeit befürchtete.
„Er hat das Gift des Schierlings im Wein getrunken, Herrin! Er hat mich fortgeschickt und wollte nicht, dass ich bei ihm bleibe. Nach Mohnsaft hat er noch gefragt. Ich glaube er hat ihn in den Wein gemischt, damit er einschläft, bevor das Gift wirkt. Hätte ich es gewusst ...“
Er sollte schweigen! Neaira gab ihnen allen einen Wink, sie allein zu lassen. Die Sklaven beeilten sich, das Zimmer mit ihrem toten Herrn zu verlassen. Sein Selbstmord war ihnen unheimlich, und sie wussten nicht was nun aus ihnen werden würde. Als sie allein war, trat
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