Der Gesang des Satyrn
sich stattdessen auf die Zukunft ihrer Tochter, die mittlerweile fast vier Jahresumläufe zählte.
Mehr denn je fürchtete Neaira um Phanos Platz in diesem neuen wohlhabendem Leben. Zwar spielten Proxenos und Ariston Neaira zu, indem sie Phano nicht mehr als Tochter einer Hure verleugneten. Sie taten es jedoch weder für ihre Schwester, noch um Neaira einen Gefallen zu tun.
Vielmehr empfanden sie es als peinlichen Makel eine Halbschwester zu haben, deren Mutter eine Hure war. Die Brüder schwiegen sich über Phano aus. Wenn sie jedoch nach ihr gefragt wurden, behaupteten sie, Phano wäre die Tochter ihrer verstorbenen Mutter. Ein wohlhabender und wichtiger Mann wie ihr Vater, der sich eine Hetäre hielt, mochte noch angehen. Doch eine Leibesfrucht aus dieser Verbindung wäre ihnen mehr als peinlich gewesen.
Obwohl Thratta und Kokkaline alles dafür taten Phano klarzumachen, dass Neaira nicht ihre Mutter war, hing Phano an ihr wie ein Hündchen. An einem Tag, als Neaira mit Kokkaline im Andron die Speiseliste für die Gäste durchging, kam Phano auf ihren stämmigen Beinchen zu ihr gelaufen und krallte sich an Neairas Chiton fest.
„Mutter! Meine Brüder haben mir verboten, mein Zimmer zu verlassen. Sie sagen, ich darf mich niemandem zeigen.“
Tränen liefen über Phanos Gesicht, die offensichtlich die Gemeinheiten ihrer Brüder nicht verstehen konnte, zumal Neaira und die Sklavinnen frei umher gingen. Als Neaira ihr antworten wollte, kam Stephanos mit einem seiner hochrangigen Freunde von der Agora zurück. Der Mann starrte unverwandt auf das jammernde Kind, das an Neairas Bein hing. In seinen Blicken schienen tausend Fragen zu sein. Vielleicht suchte er nach Ähnlichkeiten zwischen Phano und Neaira. Sie würde es nicht zulassen!
„Geh, und gehorche deinen Brüdern, Phano – und nenn mich nicht Mutter. Du weißt, dass deine Mutter tot ist.“
Phano protestierte, doch Kokkaline nahm sie schnell auf den Arm und brachte das sich wehrende Mädchen fort.
An diesem Tag wusste Neaira, dass sie Phano bald in die Frauengemächer sperren musste. Es war nicht schlimm, wenn eine Hetäre sich offen zeigte und im Haus ihres Geliebten umherlief. Aber Phano galt als Tochter von Stephanos verstorbener Gattin. Wenn sie später einmal heiraten wollte, musste sie auch das Leben einer Bürgerin führen.
Phano war anderer Ansicht. Das Mädchen war trotzig, wie Neaira selbst es immer gewesen war, und weigerte sich eingesperrt zu werden. Als alles Einreden auf Phano nicht fruchtete, beschloss Neaira schweren Herzens, dass sie zu Strafen greifen musste, um Phano zur Vernunft zu bringen.
„Deine Mutter ist tot“, wies sie Phano kühl zurecht, wenn das Mädchen zu ihr gelaufen kam. Schließlich schlug sie Phano mit dem Gürtel, was allerdings nur dazu führte, dass das Kind sich an den Falten ihres Peplos festklammerte und versprach, dass es fortan brav sein wollte. Es bricht mir den Rest meines Herzens, und davon ist ohnehin nicht mehr viel übrig , dachte Neaira dann und warf sich wie früher in Kokkalines Arme. Sie weinte jedes Mal, nachdem sie Phano hart bestraft hatte. Doch sie hielt an ihrem Vorhaben fest, der Tochter ein anderes Leben zu ermöglichen, als sie es führte. Dafür musste jeglicher Verdacht unterbunden werden, dass Neaira die Mutter von Phano war – und es wäre einfacher für Phano, wenn auch sie es nicht wusste.
„Jetzt hör schön auf“, gab sie ihr zu verstehen, wenn Phano sich an sie klammerte. „Ich sorge nur für dich, weil deine Mutter tot ist.“
Je mehr sie Phano zurückwies, desto mehr weinte Neaira heimlich, weil ihr die verletzten Blicke ihrer Tochter nicht aus dem Kopf gehen wollten. Ihr Kummer verhärtete sie nach und nach wie Granitstein, ihre Tränen wurden zu hartem Glasfluss, und irgendwann lag auch ihr Herz hinter einer Mauer aus Stein. „Ich weiß, dass es so besser für sie ist“, befand Neaira gegenüber Thratta und Kokkaline, wenn die beiden ihr erzählten, dass Phano geweint hatte.
Auch Stephanos fragte Neaira manchmal, ob diese Haltung und die Lügen gegenüber Phano wirklich nötig wären, doch sie funkelte ihn an und erinnerte ihn an das gegebene Versprechen. Wenn es nicht nötig gewesen wäre, hätte sie es nicht getan, das wusste Aphrodite ebenso gut wie sie. Stephanos gab klein bei, denn jedes Mal, wenn Neaira ihn an den Tag des Versprechens erinnerte, machte sie ihm klar, dass er sie für seinen Aufstieg an Phrynion hintergangen hatte. „Ich verlange nicht viel von
Weitere Kostenlose Bücher