Der Gesang des Satyrn
Neaira an Phrynions Lager und sah in sein regungsloses Gesicht. Gleich würde er sie ansehen und über den boshaften Scherz lachen, den er ihr wieder einmal gespielt hatte. Dann wurde ihr klar, dass er nie wieder seine Augen öffnen und sie mit dem geheimnisvoll lauernden Blick ansehen konnte – nie mehr!
Seine Hand fühlte sich eiskalt an. Sicher hatte Phrynion sich unverzüglich, nachdem er ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, das Leben genommen. Auf dem kleinen Tisch neben seinem Lager entdeckte Neaira zwei Papyrusrollen, von denen sie eine als ihre Freilassungsurkunde erkannte. Die andere musste er geschrieben haben, bevor er zum Giftbecher gegriffen hatte. Neaira entrollte sie und erkannte Phrynions Handschrift, obwohl nur ein einziger Satz auf dem Bogen stand. „Du hast gesiegt!“
In diesem Augenblick brachen die Dämme ihrer Beherrschung. Die Unabänderlichkeit seines Todes und der Stille, die sein Fortgehen mit sich brachte, schienen ihr unerträglich. Obwohl Neaira dagegen ankämpfte, brach sie neben Phrynions Lager zusammen und begann zu schluchzen und ihr Nachtgewand zu zerreißen. Der Schmerz eines gesamten Menschenlebens fraß sich durch die Mauer ihres Herzens. Ich bin allein! Sie hatte nicht geahnt, dass ohne Phrynion eine so große Leere zurückbleiben würde. Er hatte ihr Leben ausgefüllt mit seiner Liebe, seinen Gemeinheiten, seinen Ränken und seinem Begehren. Ohne ihn blieb nichts für Neaira, was es zu fürchten, zu lieben, zu hassen oder zu begehren galt.
„Nein, das ist nicht wahr, Phrynion“, schrie sie, wobei ihr Tränen über das Gesicht liefen. „Du hast mir alles genommen - alle, die ich geliebt habe, sogar die Liebe zu Stephanos und meiner Tochter hast du zerstört. Und jetzt lässt du mich einfach zurück und nimmst mir das Letzte, was mir geblieben ist ... den Hass, den ich auf dich empfinde! Wofür soll ich denn leben, wofür soll ich kämpfen, jetzt wo du fort bist? Wer kennt mich so gut wie du?“ Neaira rollte sich vor dem Lager des Toten zusammen wie ein kleines Kind. Sogar die Kraft wütend auf ihn zu sein, konnte sie nicht mehr aufbringen. Ihre Stimme war nur noch ein kraftloses Flüstern: „Du kanntest mich so gut, Phrynion. Du kanntest mich viel besser, als Stephanos mich jemals kennen wird, und ich war dir in meinem Hass viel näher als ich Stephanos mit meiner Zuneigung war.
Bitte geh nicht, lass mich nicht allein! Phrynion ... verstehst du denn nicht? Ich liebe dich!“
18. Kapitel
Die fremde Tochter
Neaira war vierzig Jahre alt, hielt ihre Freilassungsurkunde in der verkrampften Faust, und sie war allein! Die Sklavinnen Phrynions halfen ihr die Dinge zusammenzusuchen, die er ihr im Laufe der Jahre geschenkt hatte. Es war ein ganzes Leben, das sie in die Truhen legten. Als sie das letzte Mal durch das Andron ging, zwang sich Neaira dazu nicht noch einmal zu weinen.
Hinter der Tür zur Rechten des Androns lag Phrynion, den sie gehasst und geliebt hatte, tot auf seinem Lager. Sie hätte sich zu ihm legen wollen! Er hatte gehofft mit ihr gemeinsam zu schwelgen und unterzugehen – aber sie hatte es abgelehnt und sich dagegen gewehrt. Warum? Sie hatte Phrynion geliebt und gehasst, gefürchtet und begehrt, aber keines jener Gefühle war schal gewesen. Jetzt, in der warmen Vormittagssonne vor seinem Haus, fühlte Neaira sich ausgelaugt und vollkommen leer. Die Sklaven halfen ihr in den Eselskarren und verabschiedeten sich mit hängenden Köpfen von ihr. Selbst von ihnen fiel Neaira der Abschied schwer. Sie waren ein Teil von Phrynion, von dem unwirklichen Leben, das sie geführt hatten. Wie Rauch war es verflogen, und wie Rauch würden auch seine Sklaven in alle Himmelsrichtungen auseinanderstreben, wenn sie an unterschiedliche Herren verkauft wurden.
Neaira wagte nicht zurückzublicken, als der Eselskarren sich in Bewegung setzte. So sehr sie den Tag ihrer Freiheit ihr ganzes Leben lang ersehnt hatte, so bedeutungslos erschien er ihr nun. Während sie durch die belebte Polis fuhr, drangen die Geräusche des täglichen Lebens nur von Weitem an sie heran. Der ängstliche Ruf der Ochsen, die zum Opfer in den Tempel geführt wurden, das Lachen der Sklavinnen, die Wasser an den Brunnen holten, die Händler, die lautstark ihre Waren anpriesen. Was bedeutete dieser Tag ihr – Phrynion war tot! Seine allgegenwärtige Anwesenheit, seine alles überschattende Persönlichkeit. Er war fort – und sie war noch da.
Neaira schloss sich in ihren Räumen ein, sobald sie
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