Der Gesang des Satyrn
stand, und brachte dort ein Opfer dar, indem sie der Büste einen Efeukranz auf das Haupt setzte und mit Wein besprengte, den ihre Begleiterinnen ihr reichten. Jede Frau wollte mindestens einmal der Basilinna bei ihrer kultischen Handlung zur Seite stehen, und nicht selten entstand ein Gerangel um die Reihenfolge, da jede fürchtete, übergangen zu werden. Es war eine Ehre, der Basilinna den Opferwein zu reichen. So dauerte es fast den gesamten Vormittag, bis die Basilinna die Residenz ihres Gemahls erreichte und von ihm in Empfang genommen wurde.
Neaira, die neben Stephanos stand, der sich vor dem Wetttrinken mit der Ausrede gedrückt hatte, dass er langsam alt wurde und lieber ein Auge auf seine Tochter haben wolle, hielt vor Ehrfurcht die Luft an, als Theogenes Phano seine Hand reichte. Gemeinsam beobachteten sie diesen ansonsten unsicheren und hilflosen Mann, wie er selbstbewusst Phanos Hand nahm. Sahen sie sich tatsächlich in die Augen? Lächelte Phano und sah dann verschämt zu Boden? Neaira meinte, ihren Augen nicht trauen zu können. Das, was sie sah, war mehr als das Schauspiel, welches den Athenern alljährlich geboten wurde. Phano und Theogenes waren verliebt! Als sich die Türen der Residenz hinter Phano und Theogenes unter lauten Jubelrufen schlossen, war Neaira glücklich wie lange nicht mehr. „Sie ist eine würdige Basilinna “, meinte sie voller Stolz an Stephanos gewandt, der jedoch abgelenkt war. Sein Blick ruhte starr auf dem Mann, der einige Schritte neben ihm stand. Neaira, enttäuscht über Stephanos Desinteresse, folgte seinem Blick und erschrak, als sie in die stechenden Augen Apollodoros sah.
Aphrodite mochte ihr beistehen, denn eben diesem Mann hatte sie nicht begegnen wollen. „Lass uns gehen, Stephanos“, bat sie ihn leise, doch er schien wie angewachsen und nicht bereit, auch nur einen Schritt zu weichen. Warum mussten Männer ständig ihre Kräfte messen? Neaira zog Stephanos am Arm wie einen störrischen Esel. Apollodoros war ebenso nüchtern wie Stephanos und beobachtete unzufrieden die Freude der feiernden Menschen. Hager und groß wie ein Raubvogel, der das Aas betrachtet, erschien er Neaira. Als er Stephanos erblickte, verfinsterte sich sein Gesicht. Wie ein staksender Vogel kam er ein paar Schritte auf Neaira und Stephanos zu und blieb dann vor ihnen stehen. Die beiden Männer starrten sich an wie Hähne, die aufeinander losstürmen wollten. Zu Neairas Erleichterung taten sie es jedoch nicht.
„Es ist immer wieder verwunderlich, wie Dionysos Feste die natürliche Ordnung der Welt umkehren. Sklaven feiern und trinken mit ihren Herren, ehrbare Frauen gebärden sich wie Mänaden ... und die Töchter von Huren werden bejubelt!“ Apollodoros sagte es zu Stephanos, sah jedoch Neaira an, der es kalt über den Rücken zu laufen begann. „Ich warne dich, Stephanos! Ich weiß, dass du meinen Beschluss zur Auffüllung der Kriegskasse verhindern sollst. Wenn du dich einmischt, wird der hohe Flug deiner Tochter mit mehr als nur einem gebrochenen Flügel enden. Ist es nicht so, dass die Basilinna eine Athener 617
Bürgerin sein muss, aber vielmehr noch, dass sie jungfräulich in die Ehe mit dem Archon Basileus geht? Eine Jungfrau ist diese Hure, die ihre Beine für deine Hausgäste spreizt, wohl kaum gewesen, als du sie mit Theogenes verheiratet hast. Also überlege dir gut, was du tust - auch eine Basilinna kann verstoßen werden.“
Neaira konnte sehen, wie Stephanos innerlich zu glühen begann, wie seine Hand sich zur Faust ballte, um Apollodoros niederzuschlagen. Geistesgegenwärtig packte sie seine Hand und hielt ihn zurück. „Nicht hier, Stephanos ... er will doch nur, dass du dich unter Zeugen gegen ihn wendest!“
Apollodoros, der sie bisher entweder geringschätzend oder überhaupt nicht angesehen hatte, bedachte Neaira mit einem verärgerten Blick und gab ihr mit einem einzigen Funkeln seiner Raubvogelaugen zu verstehen, dass ihre Einmischung ein Fehler gewesen war. „Deine Hetäre hält sich für ein kluges Weib“, zischte er gereizt. Dann wandte er sich endlich ab und verschwand zwischen den wogenden und tanzenden Leibern der Menschen.
„Ich werde ihm seine Großspurigkeit schon austreiben“, flüsterte Stephanos. Doch Neaira hörte Apollodoros schneidende Stimme noch immer in ihrem Kopf, als sie sich auf den Heimweg machten.
23. Kapitel
Die gefallene Königin
Das Haus war in ausgelassener Stimmung als Stephanos und Neaira zurückkehrten. Die Sklaven waren
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