Der Gesang von Liebe und Hass
richtiger Junge!‹ Gustav schlug ihm auf den Rücken.
›Karl!‹ Gustav sprang auf. ›Wie schön, dich zu sehen!‹ Die beiden Männer schüttelten sich die Hand, umarmten sich in einem Bärengriff, dann blickte der blonde Mann mit der Schiffermütze und den breiten Schultern auf Paul herunter. ›Dein Sohn?‹
›Ja, mein Sohn.‹
›Ein kräftiger Junge.‹
Paul sprang von der Bank, machte einen Diener.
Karl packte ihn fest bei der Schulter, zog ihn hoch. ›Das machst du mir nie mehr, mein Junge! In unserer Republik braucht keiner einen Diener zu machen, und kein Mädchen einen Knicks. Das ist vorbei, weggeweht vom Sturm der Befreiung.‹
Gustav lächelte ein wenig betreten, Paul sah seinen Vater verwirrt an.
›Einen Diener machen nur Sklaven‹, sagte Karl. ›Und du bist doch kein Sklave, oder?‹
›Aber Mutter sagt …‹
›Deine Mutter weiß ja gar nicht, was heute hier passiert ist. Wenn dein Vater es ihr erklärt, dann wird sie dir schon von allein noch sagen, daß das Dienermachen und das Knicksemachen vorbei ist.‹
›Aber in der Schule haben sie gesagt, wenn die Kommunisten an die Macht kommen, dürfen wir nicht mehr in die Kirche gehen. Dann werden die Kirchen verbrannt wie in Rußland.‹ Paul sah Karl, den mächtigen Mann mit den mächtigen Pranken, herausfordernd an.
›Hier sind keine Kommunisten an der Macht, merk du das! Die Sozialdemokratie regiert, und sie wird auch weiter regieren. Bei uns wird es keinen bolschewistischen Terror geben, dafür sorgen schon unsere Arbeiter- und Soldatenräte, alles prima Kerle, die sich jetzt um Gerechtigkeit und Ordnung kümmern werden.‹
›Ja, Herr …‹
›Ich heiße Karl.‹
›Ja, Karl.‹
Karl gab Paul seine Pranke, aber der Griff der Hand war trotz seiner Festigkeit weich, so, als wollte er Paul nicht ängstigen und nicht noch mehr in Verwirrung bringen nach all dem, was rings um sie geschah. Wenn er später daran zurückdachte oder davon träumte wie jetzt, dann wußte Paul, daß es der Karl mit der Schiffermütze gewesen war, mit dem norddeutschen Akzent, ein Mann, der die Dinge ›machte‹, der sein Vorbild geworden war, neben seinem Vater. Durch ihn kam er auch später zur Sozialdemokratie.
Und es wurde schwarz, und er sank tiefer in seinen Traum, aber dann kam er wieder an die Oberfläche, und er ging über die Straßen von Paris, halb von Freude und halb von Trauer erfüllt – denn nun war er im Exil.
Aber das war in einem anderen Land.
Das war zu einer anderen Zeit.
Maria Christina hockte am Eingang des Felsüberhangs und lauschte. Sie hatte die Augen geschlossen, denn so konnte man besser hören. Das war ein Trick, den sie von ihrem Vater her kannte und von ihren Brüdern, wenn sie auf die Jagd gingen.
Nichts war zu hören, nicht einmal ein Vogel in der Nacht. Sie öffnete die Augen und schaute um sich. Sie hatte sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und so konnte sie die Einzelheiten in ihrer Umgebung unterscheiden, den blaßgeschliffenen Wildpfad, der zu ihrer Höhle führte, das hohe Gras rechts und links davon, dahinter den Wald. Zur Linken, gegenüber dem Felsüberhang, standen die Kiefern wie riesige Wächter zum Tor der Nacht. Zwischen den schwarzen Stämmen konnte Maria Christina silbrig hell den Himmel erkennen.
An der Quelle regte sich etwas.
Maria Christina saß starr, die Maschinenpistole fest umklammert. Sie hielt den Atem an. Sie hörte ein Gluckern und Schlürfen, und jetzt erkannten ihre Augen eine Form, niedrig, schlank, mit glattem Hals.
Sie lächelte in sich hinein.
Ein Reh, das zur Tränke kam.
Das Reh hob witternd den Kopf, schaute jetzt zu ihr herüber. Maria Christina blieb reglos sitzen.
Das Reh trank weiter, war dann mit zwei, drei lautlosen Sätzen wieder im Wald verschwunden.
Maria Christina erhob sich. Ihre Glieder waren vom Hocken verkrampft. Sie ging ein paar Schritte vorsichtig auf dem Wildpfad hin und her.
So müssen wir leben in den nächsten Tagen, vielleicht in den nächsten Wochen, dachte sie.
Wir müssen so leben wie das Reh. Es hatte den ausgetretenen Wildpfad vermieden, obwohl es Brenski und Maria Christina weder sehen noch wittern konnte. Aus Instinkt hatte es die andere Seite des Bächleins zum Trinken gewählt.
Wie Tiere im Wald.
Das ist unser Leben.
Aber der Gedanke machte sie nicht unglücklich. Im Gegenteil. Eine stille und doch warme Freude hatte sich in ihr ausgebreitet. Sie dachte an Burton und verglich ihn mit Brenski.
Der Vergleich war unsinnig, so
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