Der Gesang von Liebe und Hass
aber der Hund winselte nur. Paul kraulte zurück, kletterte ans Ufer, hob ein Stück Holz auf, einen kleinen Ast, und warf ihn weit ausholend ins Wasser. ›Hol's!‹ rief er. Ajax machte einen Satz ins Wasser, jaulte auf und paddelte, watschelnd wie eine Ente an Land, hinter dem abtreibenden Holz her. Paul hechtete wieder ins Wasser, schwamm neben dem kleinen Hund, und in den Augen des Tieres sah er eine reine Freude, die ihm das Herz warm und groß werden ließ. ›Braver Hund, braver Hund‹, lobte er, und so erreichten sie das Holz und schwammen zurück. Zwei Lektionen an einem Tag, das war genug für den kleinen Hund.
›War es schön?‹ fragte seine Mutter, als Paul nach Hause kam. ›Ja, es war sehr schön.‹ Und wie ein Tuch legte es sich über sein Nachtgesicht, und als das Tuch weg war, sah er sich wieder im Wasser, und rechts und links von ihm schlugen die Schüsse ein, und er wußte, er schwamm um sein Leben. Das war am Ebro, bei seinem ersten Einsatz in der Brigade. Da war er noch ein grüner Bursche, es schien eine Ewigkeit her, und doch war es erst ein gutes Jahr. In der Zeit war er vom jungen, begeisterten Funktionär der im Exil lebenden deutschen Sozialdemokratischen Partei zum kalten, abgebrühten Kämpfer geworden, dem auch die Parolen nicht mehr viel sagten.
Die Kugeln am Ebro und nachts auf den Ramblas von Barcelona, den breiten Alleen. Alle Männer liefen bewaffnet umher, es war ein echter Volksaufstand als Antwort auf den Putsch der Generale. Auch Carmen trug zwei Patronengürtel über ihr schwarzes, fast bis zur Taille offenes Hemd geschlungen, ihre langen Beine steckten in einer olivfarbenen Militärhose, die so eng saß, daß alle Männer pfiffen, wenn die Milizionärin vorbeiging, und Paul war bei ihr, stolz auf ihre wilde Schönheit, und sie liebten sich in einem breiten Bett in einem beschlagnahmten Hotel direkt über den Ramblas, und es war die wildeste Nacht, die Paul je erlebt hatte.
Carmen, Ajax, Barcelona, das Exil in Paris.
Aber wo bleibt mein Dorf? Warum erscheinen meine Eltern nicht?
Wo bleibt Berlin?
Ich bin Deutscher. Ich bin ein Deutscher, auch wenn ihr mich nicht wollt.
Und auf einmal war Berlin da, mit seinen kantigen Schwarzweißkontrasten, sie standen in einer dicht gepackten Menschenmenge vor dem Gebäude, das der Vater Reichstag nannte, und die Menge sang ein aufpeitschendes Lied.
›Was ist das?‹ fragte Paul seinen Vater.
›Das ist unser sozialistisches Kampflied, mein Sohn‹, sagte Gustav Brenski, und er sang es mit seinem tiefen Baß.
›Völker, höret die Signale … auf zum letzten Gefecht …‹
Gustav Brenski drückte die Hand seines Sohnes, als könnte er all sein Wissen, all seine Erfahrungen in der Arbeiterbewegung damit auf den Zehnjährigen übertragen. Und sie sangen: ›Wacht auf, Verdammte dieser Erde …‹
Es war eine Hymne, deren melancholisch-aufwühlender Rhythmus Paul die Tränen in die Augen treten ließ. Er umklammerte fest die Hand seines Vaters.
Plötzlich erschienen Männer in dunklen Anzügen auf dem Balkon des Reichstags, sie winkten, und einer von ihnen schien sich Ruhe verschaffen zu wollen. Ein Mann hinter diesem faszinierte Paul besonders, weil er eine schwarze Augenklappe trug, ein scharfes Gesicht hatte, eisengraues, kurz geschnittenes Haar mit dem Rest eines tiefen Schwarz darin. Er schaute auf die Menge herunter, als sei er weit weg und doch Teil dieser Menge.
›Genossen! Bürger von Berlin!‹ schrie jetzt der andere, untersetzte Mann über das Spektakel der Menge hinweg.
›Das ist Scheidemann, Paul‹, sagte Gustav Brenski, ›das ist neben Ebert der wichtigste Mann in der Sozialdemokratie.‹
›Bürger von Berlin, Bürger Deutschlands! Der Kaiser hat abgedankt, die Monarchie ist bankrott. Es lebe die neue Deutsche Republik!‹
Der Jubel, der diesen Worten folgte, war wie ein Sturm.
Später saßen sie in einem Wirtshaus am Alexanderplatz, um sich nur Genossen mit hektischen, roten Gesichtern, mancher mit feierlicher Miene, wie bei einer Hochzeit, einer Taufe – oder auch einer Beerdigung. Die schwarzen Schleifen der Trauer um die Monarchie fehlten jedoch, denn keiner trauerte ihr nach.
›Trink, Junge. Es ist ja nicht dein erstes Bier, oder?‹ Gustav zwinkerte seinem Sohn gutmütig zu, und der wurde rot bis hinter beide Ohren.
›Meinst du denn, ich hätte es nicht gemerkt, wenn du mir das Bier im Goldenen Hirschen geholt hast? Aber sicher hast du einen Schluck genommen, sonst wärst du ja gar kein
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