Der Gesang von Liebe und Hass
haben, denn er sagte in weicherem Ton: ›Bitte, kommen Sie mit in meine Praxis. Ich werde Ihnen helfen.‹
Er hatte einen Einspänner am Straßenrand stehen, und er half mir das Trittbrett hinauf. Die Sitze waren mit grünem Samt gepolstert, aber ich gab acht, mich nicht anzulehnen, ich hatte Angst, daß mein Blut sie beflecken könnte. Ich saß in meiner Dienstmädchentracht da, und er, der feine Herr, kutschierte mich, und wir müssen schon einen seltsamen Anblick geboten haben.
Aber wir befanden uns in einem Viertel der Stadt, in dem nicht gerade die reichsten Leute wohnten, und die ärmeren, die hatten genug mit sich selbst zu tun und schauten gar nicht zu uns hin.
Seine Praxis lag in einem Haus, das zur Straße nur drei Fenster je Stockwerk aufwies. Im Parterre war seine Praxis gelegen, und er bat mich höflich hinter einen weißen Wandschirm und bat mich ebenso höflich, mich auszuziehen. Ich tat es und zitterte dabei, denn noch nie hatte ein Mann mich nackt gesehen.
Aber dann trat er hinter mich und kühlte meine Wunden, und ich schämte mich nicht mehr.
›Wer hat das getan?‹ fragte er.
Und zuerst wollte ich nicht antworten, schließlich mußte ich ja zu meiner Herrin zurück, denn sie zahlte mir keinen schlechten Lohn, und wenn ich nicht zurückkäme, würde sie womöglich auch meinen Bruder entlassen, und wie sollte unsere Mutter dann uns alle – wir hatten noch vier kleinere Geschwister – nur mit ihrer Näh- und Flickarbeit ernähren?
›Wer hat das getan?‹ fragte er noch einmal. ›Sie brauchen sich nicht zu fürchten, ich werde es niemandem sagen, ich behalte es für mich.‹
Und so sagte ich es ihm und nannte auch den Namen meiner Herrin.
Als er meine Wunden versorgt hatte und ich fast keine Schmerzen mehr empfand, ging er hinaus, und nach einer Weile kam ein junges Mädchen herein, das etwa meine Größe hatte, und brachte mir frische Unterwäsche und ein blaues Kleid mit kleinen, weißen Tupfen. ›Mein Bruder bittet Sie, dies hier anzuziehen, und dann wollen wir miteinander Kaffee trinken.‹
Und Louisa nahm mich mit hinauf in den ersten Stock in ein helles, dem Garten zugekehrtes Zimmer, in einen Salon, wie man das nennt, und dort tranken wir Kaffee miteinander, und sie servierte mir, mir, verstehst du, kleine, süße Mandelkuchen und andere, die mit Schokolade überzogen und mit süßer, gelber Vanillecreme gefüllt waren. Und ich vergaß darüber die Zeit, denn mit einemmal war das Zimmer gar nicht mehr so hell. Zwischen den Ästen des Kastanienbaums vor dem Fenster ging die Sonne unter, glühte nur noch ein bißchen nach, und dann kam Louisas Bruder zurück, und er brachte meinen Bruder gleich mit.
Ich schrie erschreckt auf, weil ich wußte, daß wir wieder hungern würden, denn gute Stellen waren nicht einfach zu bekommen. Aber Fernando, mein Arzt, setzte sich neben mich auf das Sofa und nahm meine Hand und sagte noch: ›Hab keine Angst, Elena. Dein Bruder und du, ihr bleibt jetzt bei uns,‹ Ich weiß, daß ich die Augen ganz fest zusammenkniff, weil ich Angst hatte, ich würde weinen, vor lauter Glück weinen, und ich wußte, wenn ich weinte, dann würde ich häßlich aussehen, und das wollte ich vor Fernando ganz gewiß nicht.«
»Erzählt sie schon wieder ihre alten Schrullen?« fragte eine der jungen Frauen aus der Gruppe, die unbemerkt hereingekommen waren und neben der Tür lehnten.
»Was geht das dich an?« fuhr Mama Elena sie an. »Habt ihr den Ofen fertig?«
»Er ist fertig und auch schon heiß. Und kein Rauchwölkchen steigt mehr davon auf.«
»Dann geht und sorgt, daß er heiß bleibt.« Mama Elena trat zum Tisch, prüfte die Geschmeidigkeit des Brotteigs. »Noch ein Weilchen mußt du kneten«, sagte sie, »noch eine kleine Weile.«
Sie kehrte zur Bank neben dem Kamin zurück.
»Willst du wissen, wie es weiterging?« fragte sie.
»O ja«, sagte Maria Christina.
»Fernando erwirkte für meine Mutter von dem Besitzer des Sägewerks, in dem mein Vater ums Leben gekommen war, eine Rente; er ging sogar vor Gericht und konnte beweisen, daß der Tod meines Vaters auf Fahrlässigkeit in der Werksleitung zurückzuführen war. Meinen Bruder sandte er in eine Gärtnerlehre, und ich teilte mir mit Louisa die Hausarbeit, aber jeden Tag ließ Fernando für drei Stunden einen Hauslehrer kommen, der mich schreiben und lesen lehrte und sogar ein bißchen Mathematik. Ich wußte damals, daß ich Fernando liebte, aber ich hätte es nie zu erkennen gegeben, niemals. Doch
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