Der Gesang von Liebe und Hass
führen können? Du bist noch so jung.«
»Ich werde zu meiner Familie zurückkehren, und sie wird mich verbergen, wie man die verbirgt, die im Geist unheilbar krank sind. Unser Haus ist groß genug. Niemals wieder werde ich ihn sehen wollen, niemals wieder.«
Die alte Frau legte ihre Hand auf die Narbe an Maria Christinas Hals. »Das ist nur eine Wunde des Fleisches. Viel schlimmer sind die der Seele und des Herzens.« Sie strich über die Narbe hin, Maria Christina erschauderte. »Und nicht die Wunde, nicht das Erinnern an das Schreckliche, was man dir angetan hat, ist es, was deine Gedanken verdunkelt. Es ist etwas anderes, und wenn du es aussprichst, wird dir leichter sein.«
Maria Christina lehnte unwillkürlich ihren Kopf gegen die kühle, trockene und doch warme Hand der alten Frau.
Sie schloß die Augen und sah sich wieder mit Brenski, sah seinen mageren, braunen Körper und ihren weißen, schlanken, sah, wie ihre Glieder sich umschlangen, empfand noch einmal den jagenden Pulsschlag der Hingabe, fühlte sich noch einmal hinaufgetragen, weit weit fortgetragen mit ihm.
»Kann es sein, daß man spürt, wenn man ein Kind empfängt?« flüsterte sie. »Kann es sein?«
»Ich habe es stets gespürt und gewußt, bei allen sieben Kindern, die ich geboren habe und von denen mir nur zwei geblieben sind. Weil ich meinen Mann liebte und er mich und weil ich mich der Leidenschaft nicht schämte, die ich empfand.«
»Aber wenn mein Kind geboren wird, wird Brenski niemals glauben, daß es das seine ist, auch wenn ich selbst dessen sicher wäre. Er wird zweifeln, immer zweifeln.«
»Er wird es sehen. Er wird sich selbst in eurem Kind erkennen.«
»Ich bin ohne Hoffnung, ich sehe nur eine lange, dunkle Straße, auf der ich allein bin, es gibt keine Weggefährten, nur den heulenden Wind und den peitschenden Regen. Kein Licht erhellt die Nacht, und es gibt kein Dach, das mich schützen würde.«
»Du gehst über eine lange, dunkle Straße«, sagte die alte Frau, »und ich vermag nicht zu sagen, wohin sie dich führen wird. Aber denke daran, daß die Nacht ebensowenig ewig ist wie der Tag und daß die Sonne jedes Unwetter besiegt. Und allein wirst du nicht bleiben, und ein Dach wird da sein, das dir Schutz gewährt. Hast du nicht auch hier Schutz gefunden? Und so wird es immer wieder sein. Fürchte dich nicht. Vertraue auf dich selbst. Und quäle dich nicht.« Sie rückte ein wenig von Maria Christina ab, ihre Augen forschten in dem Gesicht des Mädchens. »Wann hast du mit Brenski geschlafen?«
Maria Christina zuckte zusammen.
»Kennst du dich in den Zeiten einer Frau aus, in ihrem Monatsrhythmus?«
»Meine Mutter sorgte dafür, daß unser Hausarzt es mir erklärte. Sie selbst konnte es nicht.«
»Und liebtest du deinen Brenski in der Zeit deiner Empfängnisbereitschaft?«
» Ja .«
»Dann warst du mutig und liebtest ihn wirklich. Und wenn du sein Kind empfangen hast, dann wird er es auch lieben und mutig sein.« Die alte Frau drückte Maria Christinas Schultern auf das Bett hinunter. »Schlaf jetzt«, sagte sie, »und träume, daß du auf einer Sommerwiese erwachst.«
Die dunklen Augen blickten Maria Christina befehlend an, und sie schloß ihre Lider und träumte von einer Sommerwiese, die nach Gras duftete, und sie sah den goldvibrierenden Flügelschlag von Bienen, die um leuchtende Blumen kreisten, Blumen, so groß wie Bäume, mit weiten, nickenden Kelchen in allen Farben des Regenbogens.
24.
Brenski wurde von Alpträumen heimgesucht, die immer wieder kamen. Da war die Lichtung im Wald, die brennende Jagdhütte, die verstümmelte Leiche von Agostina, die tote Mama Elena, da war Maria Christina, wie sie nackt, von den Kratz- und Schürfwunden und aus dem Stich in den Hals blutend, auf allen vieren über die Lichtung kroch, immer im Kreis, die Augen glasig.
Das war der Beginn des Traums, und dann sah er sich mit einem riesigen Flammenwerfer und vor sich Hunderte von weißen und braunen Gesichtern, und er ließ das Feuer auf sie los, daß es schien, als tanzten sie in den Flammen. Und dann kam die Explosion, und er wurde weit weggeschleudert, und er landete im See, neben sich Ajax, der um ihn herumpaddelte, aus seiner triefenden Schnauze nach Luft japsend, und er wußte, sie waren zu weit draußen, und er mußte den Hund retten.
Sie schwammen um ihr Leben, der Junge Brenski und der Hund Ajax; ein Sturm war aufgekommen und fegte gelb und blau über den See dahin. Die Wellen wurden zu Bergen, und in den
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