Der Geschichtenverkäufer
unterschiedlichen Aufsatzthemen entscheiden. Wenn ich dann, sagen wir, die Geschichte »Fast wie ein Märchen« geschrieben hatte, schrieb ich auch noch die zum Uema »Als das Licht ausging«. Und da ich keine zwei Geschichten abgeben durfte, trat ich eine an Tore oder Ragnar ab. Das lohnte sich, denn die beiden hörten auf, mich zu verprügeln. Nicht so sehr aus Dankbarkeit, glaube ich, eher hatten sie Angst, ich könnte das anderen in der Klasse verraten, daß ich ihre Aufsätze schrieb. Ich selber hätte nichts zu befürchten gehabt, selbst wenn ich es dem Lehrer erzählt hätte. Es war schließlich nicht meine Schuld, daß wir nur einen Aufsatz abliefern durften.
Ich brüstete mich nie mit diesen Gefälligkeiten. Trotzdem kamen immer mehr aus der Klasse zu mir und wollten, daß ich ihnen half. Sie boten mir Geld dafür und Schokolade, aber ich verlangte auch andere Gegenleistungen. Einmal sollte jemand im Handarbeitsunterricht zwei obszöne Wörter fallenlassen, ein andermal auf dem Lehrerstuhl hinter dem Pult ein Schneeball liegen. Ich weiß noch, daß ich so lange damit weitermachte, bis ein Junge aus der Klasse einen Aufsatz damit bezahlte, daß er einem Mädchen den BH öffnete. Zu der Zeit trugen erst wenige Mädchen in der Klasse einen BH, und die hübschesten waren das meiner Meinung nach nicht. Niemand wagte es, die vereinbarten Gegenleistungen zu verweigern, denn ich hätte jederzeit mein Schweigen gegenüber dem Lehrer brechen können.
Ich beschränkte mich bald nicht mehr auf das Fach Norwegisch und bot auch in Erdkunde, Religion, Heimatkunde oder Mathematik meine Dienste an. Nur durften hier meine Antworten meinen eigenen nicht zu sehr ähneln. Zuerst erledigte ich also meine Mathematikaufgaben tadellos, dann dauerte es nicht lange, bis ich zwei Varianten hergestellt hatte, in denen ich die jeweils passende Menge Fehler unterbrachte. Es wäre zu unwahrscheinlich gewesen, wenn Tore fehlerlose Lösungen abgeliefert hätte. Tore war zufrieden mit einer 2 plus, deshalb brauchte er 2-plus-Lösungen. Wenn noch jemand eine 2 plus haben wollte, durften die Fehler natürlich nicht dieselben sein.
Ich lieferte auch 3en oder 3-plus-Arbeiten. Auch dafür gab es einen Markt. Ich hatte großes Verständnis dafür, daß Arne und Lisbeth ihre Aufgaben nicht machen mochten, wenn sie doch nie über eine 3 plus oder 2 minus hinauskamen. Für 3 minus ließ ich mich allerdings nicht bezahlen, ich fand, es mußte Grenzen geben, und hielt es für Belohnung genug, so etwas verfassen zu dürfen. Vor allem die Arbeiten mit vielen Fehlern machten mir Spaß. Sie erforderten viel mehr Phantasie als fehlerfreie. Und mehr Überlegung.
Ein paarmal kam es vor, daß ich wirklich Geld brauchte und mir meine Eltern, weil sie ausnahmsweise miteinander sprachen, einen Taschengeldzuschuß verweigerten. Das waren die Gelegenheiten, bei denen ich eine glatte 1 oder sogar eine 1 plus verkaufte. Ich glaube, einmal habe ich eine 1 mit Sternchen in Erdkunde geholt, für Hege, die mit der Tanzschule von Ase und Finn an Turnieren teilnahm und Samba und Cha-Cha-Cha trainieren mußte. In solchen Fällen mußte ich für mich selber kleine Fehler machen und eine 2 plus anpeilen. Der Lehrer schrieb dann »Etwas unkonzentriert, Petter!« darunter. Das war komisch. Schon zu Beginn der sechziger Jahre hatten einzelne Lehrer das eingeführt, was später »Differenzierung« genannt wurde. Ein »differenzierter Kommentar« war die Feststellung, der Schüler habe sich nicht konzentriert. Wäre die Arbeit von Lisbeth gewesen, hätte der Lehrer »Herzlichen Glückwunsch, Lisbeth, überaus solide Leistung!« darunter geschrieben. Er wußte nicht, daß ich die Fehler nur absichtlich eingebaut hatte. Er wußte nicht, daß ich eine schlechtere Note haben wollte.
Hege mußte nach vorne kommen und ihre Erdkundearbeit vorlesen. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber der Lehrer bestand darauf, daß sie sich ans Pult setzte. Er nahm an ihrem Tisch Platz, neben mir. Ich saß am dritten Tisch in der mittleren Reihe und Hege rechts von mir. Dort saß also jetzt der Lehrer. Sie fing an zu lesen, sie war eine der besten Vorleserinnen der Klasse, aber diesmal las sie so leise, daß der Lehrer sie bitten mußte, die Stimme zu heben. Hege hob die Stimme, doch die versagte ihr nach kurzer Zeit, und sie mußte von vorne anfangen. Sie schielte mehrere Male zu mir herüber, und einmal winkte ich ihr verstohlen mit dem linken Zeigefinger. Als sie zu Ende gelesen hatte, klatschte
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