Der Geschichtenverkäufer
Mein Leben, das ich nicht sonderlich objektiv fand, dennoch war es auch eine Art Enzyklopädie. Mutter schimpfte mit mir, weil ich die Bücher nicht ins Regal zurückstellte, und eines Tages verbot sie mir, mehr als vier Bücher zugleich auf meinem Zimmer zu haben. Du kannst ja doch nicht mehr als ein Buch auf einmal lesen, behauptete sie. Sie begriff nicht, daß es oft gerade darum ging. Man mußte vergleichen, was in verschiedenen Büchern über ein und dasselbe Uema stand. Ich glaube nicht, daß Mutter sonderlich viel Sinn für Quellenkritik besaß.
Nachdem wir im Religionsunterricht die Propheten durchgenommen hatten, bat ich den Lehrer, Jesaja 7, Vers 14 aufzuschlagen. Er sollte der Klasse den Unterschied zwischen einer »Jungfrau« und einer »jungen Frau« erklären. Der Lehrer wußte doch wohl, daß das hebräische Wort für »Jungfrau« sich in diesem Vers nur auf eine »junge Frau« bezog? Ich wußte es aus Salmonsens Konversationslexikon. Matthäus und Lukas hätten den hebräischen Originaltext wohl nicht sorgfältig genug gelesen, sagte ich. Sie hätten sich vielleicht mit der griechischen Übersetzung begnügt, der Septuaginta; ich fand diesen Namen witzig. Septuaginta sei die lateinische Zahl 70, erklärte ich, den Namen habe die erste griechische Übersetzung des Alten Testamentes erhalten, weil sie innerhalb von siebzig Tagen von siebzig jüdischen Gelehrten gemacht worden sei.
Nicht immer war der Lehrer von meinen Beiträgen zum Unterricht angetan, obwohl ich mir alle Mühe gab, ihn nicht zurechtzuweisen, wenn er einen direkten Fehler machte. Als ich mich erkühnte, das Dogma der jungfräulichen Geburt anzugreifen, indem ich einen Übersetzungsfehler in der Septuaginta dafür verantwortlich machte, waren ihm außerdem durch die kirchliche Lehre und die christlichen Grundregeln der Schule die Hände gebunden. Er versuchte mich auch zum Schweigen zu bringen, als ich auf den harmlosen Umstand hinwies, daß Jesu öffentliches Wirken sich laut Johannes über drei Jahre erstreckt habe, den anderen Evangelien zufolge jedoch nur über eins.
Als wir den Menschen durchnahmen, erschien es mir peinlich, daß der Lehrer einen Teil des männlichen Körpers als »Pimmel« bezeichnete. Ich nannte das Wort kindisch, besonders, da es in dem Zusammenhang um Sexualität und Fortpflanzung gehe. Welches Wort ich denn vorschlagen würde, fragte der Lehrer. Er war ein verständnisvoller Mann, ein kräftiger Kerl von fast zwei Metern, aber jetzt war er ratlos. Keine Ahnung, sagte ich, versuchen Sie doch, etwas Passendes zu finden. Aber lieber keinen lateinischen Begriff, fügte ich hinzu.
Solche Ratschläge erteilte ich dem Lehrer niemals während des Unterrichts. Ich mußte den anderen in der Klasse nicht beweisen, daß ich mehr wußte als sie, und manchmal sogar mehr als der Lehrer. Meine freundschaftlichen Tipps bekam er auf dem Schulhof oder dann, wenn er die Klasse betrat oder verließ. Ich wollte damit auch keinen Eindruck schinden oder größeres Interesse am Schulpensum heucheln, als ich tatsächlich aufbringen konnte. Im Gegenteil tat ich hin und wieder so, als interessierte ich mich weniger für die Schule, als es wirklich der Fall war, das war viel witziger. Gab ich meine Ratschläge also aus purem Wohlwollen? Nein, keineswegs.
Ich versorgte den Lehrer mit guten Ratschlägen und Hinweisen, weil ich seine Reaktion interessant fand. Ich sah Menschen gern bei ihren Auftritten zu. Ich sah es gern, wie sie sich im Walzertakt wiegten.
Jeden Samstag hörte ich den Kinderfunk im Radio. Alle norwegischen Kinder hörten samstags den Kinderfunk. Später entnahm ich einer offiziellen Statistik, daß zwischen 1950 und i960 98 Prozent aller norwegischen Kinder samstags den Kinderfunk gehört hätten. Ich glaube, das ist noch eine zu vorsichtige Schätzung.
Wir lebten in einer Kultur, die von der einschlägigen Wissenschaft als »Einheitskultur« bezeichnet wird. Alle Kinder mit Selbstachtung hörten Stompa, Der Weg nach Agra, Karlsson vom Dach und Der kleine Lord. Alle lasen die Bobsey-Kinder, die Nancy Drew-Bücher und die Fünf Freunde- Serie. Wir wurden mit Lauritz Johnson, Torbj0rn Egner, Alf Pr0ysen und Anne-Cath. Vestly aufgezogen. Darüber hinaus verfügten wir über den gemeinsamen kulturellen Hintergrund der ausführlichen Wetterberichte des Meteorologischen Instituts, der knochentrockenen Börsenkurse, der Samstagsunterhaltung aus dem Großen Studio des Norwegischen Rundfunks, der Sendungen Verkehr und Musik
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