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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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erscheint es mir deshalb, daß ich mich über einen alten Schreibtisch beuge, an dem vor langer Zeit ein anderer Norweger gesessen und geschrieben hat, einer, der seinem Land ebenfalls den Rücken kehrte. Ich halte mich in einer der ersten Städte Europas auf, in denen Papier hergestellt wurde. Die Ruinen der alten Papiermühlen ziehen sich noch immer wie Perlen aufgereiht durch das Tal. Ich werde sie natürlich besichtigen. Sonst sollte ich mich wohl vor allem im Hotel aufhalten; ich habe Vollpension gebucht.
    Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß in dieser Gegend jemand von der Spinne gehört hat. Hier dreht sich alles um Zitronen und Fremdenverkehr, und glücklicherweise ist noch keine Saison. Ich sehe, daß einige Badegäste am Strand herumwaten, aber die Badezeit hat noch nicht wirklich begonnen, und die Zitronen werden noch einige Wochen am Baum hängen.
    Ich habe Telefon auf dem Zimmer, aber ich habe keine Freunde, denen ich mich anvertrauen könnte, ich habe keine mehr gehabt, seit Maria mich verlassen hat. Ich bin kein sehr umgänglicher Mensch und kann kaum als Ehrenmann bezeichnet werden; aber ich kenne wenigstens einen Menschen, der mir nicht den Tod wünscht. Im Corriere della Sera habe ein Artikel gestanden, erzählte er, es sehe ganz so aus, als werde alles zusammenbrechen. Ich beschloß, gleich am nächsten Morgen abzureisen. Unterwegs hatte ich Zeit genug, um zurückzudenken. Ich bin der einzige, dem der volle Umfang meiner Tätigkeit bekannt ist.
    Und jetzt will ich alles erzählen. Ich schreibe, um mich selbst zu verstehen, und ich schreibe so ehrlich ich kann. Das heißt nicht, daß ich zuverlässig wäre. Wer sich als zuverlässig ausgibt, wenn er über sein eigenes Leben schreibt, hat meist schon Schiffbruch erlitten, bevor er zu dieser gefährlichen Reise überhaupt in See gestochen ist.
    Während ich überlege, wandert im Zimmer ein kleiner Mann hin und her. Er ist nur einen Meter groß, aber erwachsen. Er trägt einen anthrazitgrauen Anzug, schwarze Lackschuhe und einen spitzen grünen Filzhut. Und er fuchtelt mit einem kleinen Bambusstock. Ab und zu zeigt er mit diesem Stock auf mich, das bedeutet, daß ich mich beeilen und endlich meine Geschichte erzählen soll.
    Der kleine Mann mit dem Filzhut hat mich dazu gedrängt, alles zu gestehen, woran ich mich erinnern kann.
    Wenn meine Memoiren erst vorliegen, wird es sicher ein wenig schwieriger werden, mich umzubringen. Schon das Gerücht einer bevorstehenden Veröffentlichung könnte ihnen den Mut dazu rauben. Dieses Gerücht werde ich natürlich ausstreuen.
    In meinem Bankschließfach liegen Diktafonkassetten in sicherem Verwahr, damit auch das gesagt ist, ich verrate nicht, wo, aber ich halte Ordnung in meinen Angelegenheiten. Auf diesen kleinen Kassetten habe ich fast hundert Stimmen gesammelt, so viele Menschen haben mehr oder weniger zugegeben, daß sie ein Motiv hätten, mich zu ermorden. Einige haben sogar offene Drohungen ausgestoßen, und alles ist auf den Kassetten zu hören, die ich fortlaufend von I bis XXXVIII nummeriert habe. Außerdem habe ich ein sinnreiches Register entwickelt, das es leichtmacht, sich zu einer bestimmten Stimme vorzuspulen. Ich war umsichtig, manche werden auch sagen, raffiniert. Ich bin sicher, daß die Existenz dieser Kassetten mir während der vergangenen Jahre das Leben gerettet hat. Und einen noch größeren Wert werden diese kleinen Wunderdinge erhalten, wenn sie mit den Aufzeichnungen über mein Leben zusammen vorgelegt werden können.
    Ich will damit nicht behaupten, meine Geständnisse seien eine Garantie für freies Geleit, aber das sind die Kassetten auch nicht. Ich stelle mir vor, daß ich nach Südamerika oder nach Asien gehen werde. Im Augenblick male ich mir eine Insel im Stillen Ozean aus. Isoliert bin ich ohnehin, bin es immer gewesen. Aber es kommt mir trauriger vor, in einer großen Stadt isoliert zu sein als auf einer kleinen Insel im Stillen Ozean.
    Ich bin zum wohlhabenden Mann geworden, und das wundert mich nicht. Ich war vielleicht der allererste in dieser Branche, zumindest der erste, der das Geschäft in diesem Umfang betrieben hat. Der Markt war unbegrenzt, und ich war immer lieferfähig. Mein Metier war nicht verboten, ich habe sogar reichlich Steuern bezahlt. Ich könnte noch mehr bezahlen, darum geht es nicht, ich habe genügsam gelebt. Auch waren meine Transaktionen für die Kundschaft nicht illegal, nur peinlich.
    Ich sehe ein, daß ich von diesem Tag an vogelfrei bin und

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