Der Geschichtenverkäufer
hätte. Ich teilte einige sensationelle Tatsachen über Ragnars Familie mit, zum Beispiel, daß sein Vater sich ständig mit den Pennern betrank; danach schlug er nicht wieder zu. Er hätte wenigstens etwas sagen können, aber Ragnar war nicht sehr beredt, er sah einfach nur zu, wie ich blutete. Worauf ich ihn als Feigling bezeichnete, der es nicht wagt, mir den Mund zu stopfen, weil ich nämlich die Wahrheit sage. Ich behauptete, gesehen zu haben, wie er Hundekacke aß. Dann sagte ich, seine Mutter müsse ihn jeden Abend auf einem großen Wickeltisch im Wohnzimmer waschen, weil er sich immer wieder in die Hosen schiß und pißte. Alle wüßten, daß seine Mutter im Laden Windeln kaufe, sie kaufe so viele Windeln, daß sie schon Rabatt bekomme. Mein Kopf blutete heftig. Vier oder fünf Jungen blickten mich aufmerksam an. Ich fuhr mir mit der Hand über den Kopf und merkte, daß meine Haare naß waren. Ich fror. Ich sagte, die ganze Straße wisse, daß Ragnars Vater vom Dorf stamme. Ich sagte, ich wisse außerdem, warum er in die Stadt gezogen sei. Es sei ein Geheimnis, das Ragnar vielleicht auch noch nie gehört habe, aber jetzt könne ich es endlich verraten. Ragnars Vater sei nämlich nach Oslo gezogen, nachdem er verhaftet worden war, und er sei verhaftet worden, weil er Schafe gefickt habe. So oft, daß viele davon krank geworden seien, sagte ich, sie bekämen davon die Fickkrankheit, die schlimme Fickkrankheit, und ein Schaf sei sogar daran gestorben. Das kommt nicht gut an, erklärte ich ihm, nicht mal auf dem platten Land. Danach liefen sie alle weg. Ich wußte nicht, ob es an den Schafen auf dem platten Land lag oder an dem Blut, das aus meinem Kopf strömte. Denn inzwischen hatte sich vor mir auf dem Boden eine große Blutlache gesammelt. Ich war überrascht, wie zäh und dick das Blut aus meinem Kopf war, ich hatte eine hellere, klarere Farbe erwartet, es sollte nicht so dickflüssig sein wie anderes Blut. Einige Sekunden lang schaute ich ein phosphorgrün leuchtendes Schild über einem Kellereingang an. Mit großen Buchstaben war LUFTSCHUTZRAUM darauf geschrieben, und ich versuchte, dieses lange Wort rückwärts zu lesen, aber von den grünen Buchstaben wurde mir nur schlecht.
Plötzlich kam Meter um die Hausecke gelaufen, ich war inzwischen schon anderthalb Köpfe größer als er. Er schaute mit bestürzter Miene zu mir hoch, zeigte mit dem Bambusstock auf meinen Kopf und rief: Aber, aber! Was machen wir denn jetzt?
Ich fand es peinlich, so zu Mutter nach Hause zu kommen, ich wußte, daß sie kein Blut sehen konnte, meins schon gar nicht. Aber ich hatte keine Wahl. Kaum war ich durch die Tür, da wickelte Mutter mir auch schon Leinentücher um den Kopf, ich sah damit aus wie ein Araber. Danach fuhren wir mit einem Taxi ins Krankenhaus. Die Wunde mußte mit zwölf Stichen genäht werden. Der Arzt erklärte das zum Rekord des Tages. Danach fuhren wir nach Hause und aßen Pfannkuchen.
Das ist erinnerte Wirklichkeit; unter dem Haaransatz über meinem linken Auge sitzt noch immer die Narbe. Es ist nicht meine einzige, ich habe noch weitere »besondere Kennzeichen«, aber die werden ja heutzutage nicht mehr im Paß vermerkt.
Mutter wollte natürlich wissen, was geschehen war. Ich sagte, ich sei mit einem mir unbekannten Jungen aneinandergeraten, der meinen Vater als Schafficker bezeichnet habe. Dieses eine Mal hielt Mutter zu Vater. Sie war sonst die erste, die schlecht über ihn sprach, aber es mußte doch Grenzen geben. Ich glaube, sie fand es großartig, daß ich seine Ehre verteidigt hatte. Sie sagte: Ich kann gut verstehen, daß du böse geworden bist, Petter. So was sagt man einfach nicht. Und das fand ich ja auch.
Ich petzte nie. Petzen wäre dasselbe gewesen, wie wirkliche Ereignisse nachzuäffen. Es war zu banal. Petzen und Prügeln war etwas für die, die sich nicht richtig ausdrücken konnten.
Bald nachdem wir in der Schule Hausaufgaben aufbekamen, bezog ich weniger Prügel. Das kam daher, daß ich den anderen half. Ich setzte mich dazu nie mit ihnen zusammen, das wäre mir zu langweilig gewesen, außerdem hatte ich viel zuviel Angst, mir Freunde zu machen. Aber es passierte immer häufiger, daß ich zuerst meine eigenen Aufgaben erledigte und, wenn ich damit fertig war, sie noch ein- oder zweimal zusätzlich machte. Diese zusätzlichen Aufgaben konnte ich dann verschenken oder gegen eine Tafel Schokolade oder ein Eis eintauschen.
In der Regel konnten wir uns zwischen drei oder vier
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