Der Geschichtenverkäufer
her. Sie erzählte jetzt von ihren Aquarellen und der Ausstellung. Sie sagte außerdem, daß sie zwei Kinderbücher und eine Prachtausgabe von Grimms Märchen illustriert habe. Während der letzten Jahre habe sie auch angefangen, selber zu schreiben.
Ich war verblüfft. Ich stutzte darüber, daß sie sich erst jetzt als Schriftstellerin offenbarte, doch da sie dabei ein wenig verlegen gewirkt hatte, beschloß ich, erst einmal nichts dazu zu sagen. Vielen ist es ein wenig peinlich, von ihrem Schreiben zu erzählen, vielleicht hatte sie es deshalb noch nicht erwähnt.
Ich erzählte, daß ich von der Buchmesse in Bologna aus nach Amalfi gefahren sei. Ich beobachtete sie genau, aber sie reagierte nicht weiter auf diese Mitteilung. Ich mußte endlich aufhören, an Luigi zu denken. Sie fragte: Du gibst also auch Kinderbücher heraus? Ich nickte nur. Ich legte ihr die Hand auf den Kopf und strich ihr über die Haare. Sie schwieg.
Als wir eine halbe Stunde darauf die Via Paradiso erreicht hatten, sahen wir, daß sich große schwarze Wolken von den umliegenden Gebirgen her über das Tal wälzten. Es war schwül. Wir hörten unten in Amalfi die Kirchenglocken läuten, und eine Sekunde darauf erklangen auch die in Pontone, dann die von Pogerola auf dem Hügelkamm auf der anderen Seite des Tals. Es war Ostersonntag, Punkt zwölf Uhr.
Wir hörten den ersten Donnerschlag, und Beate nahm meine Hand. Ich fragte, ob sie kehrtmachen wolle, aber sie wollte weitergehen. Sie weiß, daß weiter oben jemand wartet, dachte ich und wußte, daß das pure Phantasie war.
Schon vor meiner Abreise aus Bologna hatte ich mir meinen eigenen Tod auf dreißig, vierzig verschiedene Weisen ausgemalt. Aber Beate war in kein Komplott verwickelt. Ganz im Gegenteil hatte ich Grund zu der Hoffnung, daß sie mich vor meinen Phantasien retten wollte. Ich hoffte schon beinahe, daß sie mich lehren würde, als Mensch zu leben.
Wir waren nicht weit von dem Wasserfall entfernt, den wir am Vortag gesehen hatten, als plötzlich ein heftiger Regenschauer einsetzte. Beate zeigte auf die Ruine einer alten Papiermühle, und wir stürzten los, um darin Schutz zu suchen. Wir krochen so tief in die Mühlenruine hinein, wie es nur möglich war. Sie lachte wie ein kleines Kind, und ihr Lachen hallte dumpf in dem alten Gemäuer wider. Das Dach über uns maß höchstens drei oder vier Quadratmeter, doch der Boden, auf dem wir uns niederließen, war trocken.
Nun saßen wir da, im schlimmsten Gewitter, das ich je erlebt habe, oder vielleicht im besten, denn wir kamen rasch überein, daß wir scharfe Blitze und Donnerkeile liebten. Sie erschienen uns viril.
Das Gewitter wütete mehr als zwei Stunden. Die ganze Zeit goß es wie aus Eimern, wir jedoch blieben trocken. Ich sagte, wir seien in die Steinzeit versetzt und zu Höhlenmenschen geworden. Hier gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, sagte ich, hier gibt es nur das Hier und Jetzt. Meine Stimme klang ebenfalls dumpf und hohl. Beate schmiegte sich in meinen Arm und fragte, wovon denn mein Roman nun handele. Ihr könne ich es doch erzählen, und hier hätte ich auch die nötige Ruhe, sagte sie. Ich ließ mich überreden. Ich entschied mich für eine Synopsis, die ich noch nicht verkauft hatte. Es handelte sich um eine Familientragödie. Ich hatte die Geschichte im Kopf und feilte sie jetzt aus. Dies ungefähr war sie:
G leich nach dem Krieg wohnte die wohlhabende Familie Kjærgaard in einem alten Patrizierhaus in der dänischen Kleinstadt Silkeborg. Sie hatten eben erst ein neues Dienstmädchen namens Lotte angestellt. Lotte war offenbar ihr einziger Name, sie war ein Waisenkind und trotz ihrer sechzehn oder siebzehn Jahre noch nicht konfirmiert. Sie galt als wunderschön, so war es kein Wunder, daß der einzige Sohn der Kjærgaards seine Blicke nicht von ihr wenden konnte, wenn sie sich für die anspruchsvolle Familie müde schuftete. Im Haus hing er ihr immer an den Fersen, und obwohl er noch ein junger Spund war, konnte er sie eines Tages in der Waschküche, wo sie gerade die Wäsche auskochte, verführen. Es passierte nur dieses eine Mal, doch es reichte, und Lotte war schwanger.
In den folgenden Jahren kamen mehrere Versionen dessen auf, was sich an dem schicksalhaften Nachmittag in der Waschküche zugetragen hatte. Es wurde getuschelt, der Junge, Morten, wie er hieß, habe Lotte vergewaltigt, als sie gerade im Waschkessel rührte, während die Familie Kjærgaard hartnäckig behauptete, Lotte sei ein Luder und
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