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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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kulturellen Interessen. Noch einmal wirfst du einen Blick auf mich, zwar nur für eine Sekunde, aber es ist ein fester, klarer Blick. - Was du vielleicht nicht mehr weißt, ist, daß ich diesen Blick erwiderte. Zwar nur ganz kurz, aber wir schauten einander doch zum ersten Mal in die Augen, es war unsere erste Nähe, denn einem Menschen in die Augen zu schauen, ohne den Blick gleich wieder abzuwenden - wie man es bei einem zufälligen Blickkontakt oft tut -, kann eine ziemlich intime Handlung sein. Es war ein gegenseitiger Blick. Übrigens hatte ich den Verdacht, daß du mein Alter erraten wolltest, aber da kann ich mich auch irren. Ich hatte meine Lasagne gegessen, jetzt wollte ich mir mit einem Feuerzeug, dem das Gas ausgegangen war, eine Zigarette anzünden. Das hast du gesehen, aber es ist dir wohl kaum aufgefallen, daß ich bemerkt habe, wie du es gesehen hast. Es hätte vielleicht fünf Sekunden gedauert, daß du an meinen Tisch gekommen wärst und mir Feuer gegeben hättest, wenn du ein Feuerzeug gehabt hättest, jedenfalls, wenn du der warst, für den ich dich hielt. Aber nun stand ich auf, ging die wenigen Schritte zu dir und fragte nach Streichhölzern. Du hast meine italienische Frage verstanden, aber an meiner Aussprache gehört, daß ich Ausländerin bin. Du sagtest, daß du nicht rauchst, aber in den folgenden zwei Sekunden hast du von einem anderen Tisch ein Feuerzeug geholt und mir Feuer gegeben. Du warst nicht der Typ, der mich einfach auf den anderen Tisch aufmerksam gemacht hätte, du hast die Verantwortung für die Situation übernommen, genauer gesagt: es machte dir nichts aus, mir Feuer zu geben, du hast dich gefreut, daß ich dich angesprochen hatte. Als du mir die Zigarette angezündet hast, hast du ganz offen verraten, daß du nicht zum ersten Mal einer Frau Feuer gibst. Als ich mich für deine Hilfe bedankte, huschte ein Schatten über dein Gesicht, das sagte mir, daß du in irgendwelchen Schwierigkeiten steckst, du fast schon nach der Möglichkeit suchst, dich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Und daß ich durchaus dieser andere Mensch sein könnte. Ich wandte mich ab und ging zu meinem eigenen Tisch zurück, das dauerte anderthalb Sekunden, ich spürte deinen Blick in meinem Nacken, aber das kann natürlich auch Einbildung gewesen sein. Als du dein Geld auf den Tisch gelegt hattest und gehen wolltest, hast du mich fast wehmütig angesehen und gewinkt, und deine Art zu winken sagte mir, daß du glaubst, wir würden einander nie wiedersehen. Ich hatte dich in meinem Skizzenblock gezeichnet, denn dein Gesicht hatte mir gut gefallen, aber du hattest gar nicht gemerkt, daß ich dich zeichne. Ich lächelte dich bewußt offen an. Ich wollte mit dem Blick sagen, daß wir ein seltsames Leben leben, und du bist gegangen, aber du schienst etwas mitzunehmen, das du in meinen Augen gesehen hattest. Die Art, wie du die Pizzeria verlassen hast, sagte mir, daß du ins Valle dei Mulini wolltest; da konnte ich mich natürlich irren, aber das tat ich ja nicht. Ich dachte, wenn ich noch eine Möglichkeit bekommen könnte, dann würde ich dich gern besser kennenlernen.
    Ich blieb auf dem schmalen Pfad stehen und klatschte zweimal in die Hände. Bravo, sagte ich. Ich fühlte mich bloßgestellt und durchschaut, und es war ein gutes Gefühl, es tat gut, sich gesehen und erkannt zu fühlen, es war wie eine Heimkehr. Und ich hatte lange keinen Menschen mehr gehabt, zu dem ich heimkehren konnte.
    Ich sagte: Zuerst hast du gesagt, es sei ein Zufall gewesen, daß du mich um Streichhölzer gebeten hast, aber jetzt behauptest du, gewußt zu haben, daß ich keine bei mir hatte.
    Sie lachte über meinen kleinen Einwand. Er zeigte ihr, daß ich mir jedes ihrer Worte genau überlegt hatte. Sie sagte: Es war immerhin ein Zufall, daß mein Feuerzeug leer war, aber du warst keine zufällige Person, du warst wie ein offenes Buch, und ich hatte schon angefangen, in diesem Buch zu lesen.
    Oder du warst vorher schon ungeheuer gut informiert, dachte ich, verdrängte diesen Gedanken aber sofort.
    Und fragte, aus anderen Gründen: Hast du noch mehr Feuerzeuge?
    Sie verstand nicht, was ich meinte. Ich präzisierte: Hast du immer ein Feuerzeug in der Tasche, das funktioniert, und eins, dem das Gas ausgegangen ist?
    Sie schaute zu mir hoch und versetzte mir eine leichte Ohrfeige. Die hatte ich vielleicht auch verdient.
    Langsam gingen wir weiter. Je mehr zwei Menschen einander zu sagen haben, desto langsamer gehen sie nebeneinander

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