Der Geschichtenverkäufer
der kleine Mann, wann er sich sehen lassen wollte. Er konnte in den unpassendsten Momenten auftauchen.
Außer Jiri sah niemand Meter, weder zu Hause in der kleinen Wohnung, in der er immer noch hauste, noch in den Straßen von Prag. Jiri hörte nie auf, darüber zu staunen.
Als er erwachsen war, begegnete ihm eines Tages die große Liebe seines Lebens. Sie hieß Jarka, und da Jiri mit ihr alles im Leben teilen wollte, versuchte er zweimal, ihr Meter zu zeigen, wenn er im Zimmer auftauchte. Seine Geliebte sollte wenigstens einen flüchtigen Blick auf das Wunderwesen werfen können.
Aber Jarka glaubte nur, daß Jiri den Verstand verlor; sie zog sich mehr und mehr von ihm zurück und verließ ihn eines Tages, um sich mit einem jungen Ingenieur zusammenzutun. Jiri lebte ihrer Meinung nach mehr in seiner Phantasie als mit den anderen Menschen zusammen in der wirklichen Welt.
Einsam und isoliert wurde Jiri zum alten Mann, und erst nach seinem Tod trug sich eine bemerkenswerte Veränderung zu. Von dem Tag an, an dem Jiri die Zeit und also unsere Welt verließ, kamen in Prag Gerüchte auf, daß in den Abendstunden ein Homunculus gesichtet worden sei, der einsam am Moldauufer entlangspazierte. Einzelne wollten dieses Männlein auch auf dem großen Marktplatz in der Altstadt gesehen haben, angeblich hatte es wütend seinen Spazierstock geschwenkt. Nicht zuletzt wurde der kleine Mann ab und zu auf einem Grabstein sitzend auf dem Friedhof beobachtet. Er saß immer auf demselben Grab; auf dem Grabstein stand JIRÍ KUBELÍK.
Eine alte Frau setzte sich bisweilen auf eine weißgestrichene Bank und winkte dem kleinen Mann freundlich zu, wenn er auf Jiris Grabstein auftauchte. Es war Jarka, die vor vielen, vielen Jahren Jiris Hand verschmäht hatte, weil sie glaubte, er habe den Verstand verloren.
Im Volksmund wurde die alte Dame Kubeliks Witwe genannt. Vielleicht, weil sie so oft auf der weißen Friedhofsbank saß und Jiris Grabstein anstarrte, vielleicht auch nicht.
Ich erzählte fast eine ganze Stunde über Jiri und Jarka, und als ich fertig war, war der kleine Mann vom Kantstein verschwunden. Vielleicht hatte ich ihm angst gemacht.
Beate sah jetzt nachdenklich aus. War das ein tschechisches Märchen? fragte sie.
Ich nickte, ich hatte keine Lust zu erzählen, daß ich es mir selber ausgedacht hatte.
Ein Kunstmärchen? Sie ließ nicht locker.
Ich beantwortete auch diese Frage mit einem Nicken, war mir aber nicht sicher, ob sie mir glaubte. Ich wußte nicht, wie gut sie sich in der tschechischen Literatur auskannte.
Als wir nach Amalfi zurückkamen, war es fünf. Ich lud Beate ein, mit mir im Hotel zu Abend zu essen. Ich sagte lauter schöne Dinge über das Essen und die Aussicht und vergaß auch nicht den erlesenen Wein aus dem Piemont. Sie sagte, sie habe etwas zu erledigen, und lehnte dankend ab.
Morgen gehen wir nach Pogerola, schlug sie vor.
Ich nickte. Und baden im Wasserfall, sagte ich.
Sie kniff mir zärtlich in den Arm und lachte.
Wir wollten uns um halb elf vor dem Dom treffen. Es war der Ostersonntag.
Ich blieb bis spät in die Nacht auf und dachte über meine Begegnung mit Beate nach. Es war ein seltsames Zusammentreffen, eins von der Sorte, wie es sie nur ein- oder zweimal im Leben gibt.
Sie war ungefähr so alt wie damals Maria. Maria war zehn Jahre älter als ich gewesen, jetzt war ich der Ältere. Ich mochte fünfzehn oder zwanzig Jahre älter sein als Beate, aber ich hatte mich jung gehalten. Ich war achtundvierzig, das war beängstigend, aber niemand konnte mir die letzten acht Jahre ansehen. »Ein bißchen älter«, hatte sie gesagt. Es hatte mich nie gestört, daß Maria zehn Jahre älter war als ich, und auch für sie schienen die zehn Jahre keine Rolle gespielt zu haben.
Ich konnte beim besten Willen nicht glauben, daß Beate die Rolle des Lockvogels für einen bezahlten Killer spielte - oder daß sie selber eine Mörderin war. Andererseits hätte sie sich in dem Fall vielleicht genauso verhalten, wie sie es am Nachmittag getan hatte. Sie war schon ebenso lange in Amalfi wie ich. Vielleicht war ich eine leichte Beute. Am nächsten Tag wollten wir das Tal hinauf und durch die Berge nach Pogerola wandern; sie hatte die Marschroute bestimmt, sie war schon einmal durch das Mühlental nach Pogerola gegangen. Sie hatte nicht mit mir essen wollen, weil sie etwas erledigen mußte. Vielleicht will sie in Ruhe telefonieren, dachte ich, und wahrscheinlich wird es morgen mittag im Valle dei Mulini
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