Der Geschichtenverkäufer
hieß Marjuscha, und Pjotr gab ihr gutes Geld dafür, daß sie Panina Manina mit nach Rußland nahm. So kam es, daß die Kleine auf einem armen Bauernhof in der russischen Tundra aufwuchs. Die Frau behandelte Panina Manina gut, denn sie hatte sich immer schon eine Tochter gewünscht; aber die Kleine hatte solches Heimweh nach ihrem Papa und dem Zirkusleben, daß sie sich ein ganzes Jahr lang jeden Abend in den Schlaf weinte. Eines Abends hatte sie sogar vergessen, warum sie weinte, doch ihre Tränen flossen weiter, denn sie war noch immer traurig; daß sie nicht wußte, warum, machte keinen Unterschied. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr an den Zirkus erinnern, vergessen war der Geruch der Sägespäne, vergessen ihr Vater in einem Land irgendwo in weiter Ferne.
Panina Manina wurde immer schöner, schließlich war sie die Schönste im ganzen Land östlich des Ural. Damals herrschte noch Stalin im Sowjetstaat, und die Pflegemutter war ein wichtiges Mitglied der Kommunistischen Partei, so zog Panina Manina eines Tages in die Hauptstadt und arbeitete als Modell für die größten Künstler des Landes. Zufälle - und in dieser Geschichte geht es um die Zufälle des Lebens -, Zufälle führten sie an einem Sommertag nach München, das nicht weit von Ulm entfernt liegt. Das Zirkuszelt ihres Vaters stand am Isarufer und wurde von Panina Manina entdeckt, als sie sich in der bayerischen Hauptstadt umsah. Sie ging zu dem Zelt, sie fühlte sich dazu hingezogen; aber sie wußte noch immer nicht, daß sie früher einmal ein Zirkuskind gewesen war. Das Zelt stand überdies in einer anderen Stadt. In ihrem tiefsten, tiefsten Herzen aber muß es doch eine Erinnerung an die Manege mit den Clowns und den Paraden gegeben haben, an die wilden Ritte auf nackten Pferderücken und die dressierten Seelöwen. Vor dem Zelt hatten sich viele Menschen versammelt, denn die Vorstellung sollte bald beginnen. Panina Manina lief zum Kartenschalter und kaufte den teuersten Platz, denn für eine junge Russin war es ein großes Erlebnis, im fernen München einen Zirkus zu besuchen. Unter dem Baldachin vor dem Zirkuszelt kaufte sie sich Zuckerwatte, und vielleicht fiel es jemandem auf, daß eine elegante Dame in der ersten Reihe rosa Zuckerwatte leckte; aber Panina Manina wollte die süße Leckerei unbedingt kosten, denn dort, wo sie herkam, gab es sie nicht alle Tage. Die Vorstellung begann mit einer Parade durch die Manege, dann kamen die kühnen Trapeznummern, die Clowns und die Jongleure, die Kunstreiterinnen und die dressierten Elefanten. In der kurzen Pause zwischen zwei Nummern aber geschieht etwas: Panina Manina verliert plötzlich die Kontrolle über sich, klettert über die Brüstung und springt, mit der Zuckerwatte in der einen und einem breitkrempigen Damenhut in der anderen Hand, in die Manege. Sie beginnt zu tanzen und zu hüpfen, doch nicht wie eine erwachsene Frau - nein, Panina Manina führt sich auf wie ein ungebärdiges kleines Kind. Anfangs lacht das Publikum noch schallend, das Ganze könnte auch eine neue Clownsnummer sein, doch dann erkennen die braven Münchener, daß die Dame mit der Zuckerwatte einfach nur verrückt oder betrunken ist - vielleicht steht sie gar unter Drogen -, und es erhebt sich ein gellendes Pfeifkonzert. Noch einige Sekunden verbringt Panina Manina in Ekstase, dann sieht sie den stattlichen Mann, der mit einer Reitpeitsche vor dem Zirkusorchester steht. Es ist der Zirkusdirektor. Panina Manina sinkt auf die Sägespäne und bricht in ein herzzerreißendes Schluchzen aus, denn nun bemerkt sie, wie peinlich sie sich aufgeführt hat. In genau diesem Moment erkennt der Zirkusdirektor in der hysterischen Dame seine Tochter. Er läuft durch die Manege auf sie zu, sie schaut zu ihm auf, und jetzt, jetzt weiß auch Panina Manina, daß sie die Tochter des Zirkusdirektors ist, denn Blut ist, wie man richtig sagt, dicker als Wasser. Der Zirkusdirektor bläst daraufhin den Rest der Vorstellung ab. Er schaut zum Kapellmeister hoch und bittet um das Stück »Smile« aus dem Chaplin-Film Moderne Zeiten. Damit ist das Publikum entlassen. Er weiß, daß seine Karriere als Zirkusdirektor damit vielleicht zu Ende ist, denn die Münchener verzeihen keinen Patzer; und dennoch ist er glücklich. Er hat seine Tochter wiedergefunden, das war die größte aller Zirkusnummern, und nun will er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen.
Beate hatte kein Wort gesagt, während ich erzählte, sie wirkte beinahe wie gelähmt. Als ich
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