Der Geschichtenverkäufer
Dann ging ich in ein anderes Zimmer, zog die
Tür aber nicht hinter mir zu. Nicht, weil ich Mutter beim Weinen zuhören wollte, sondern um die Musik nicht zu verpassen. Irgendwann zerdrückte vielleicht auch ich eine sentimentale Träne.
Bevor ich Chaplins Rampenlicht sah, hatte ich außer Puccini und Tschaikowsky keine wirklichen Genies gekannt. Wenn ich allein zu Hause war, hörte ich mir den letzten Satz der Symphonie Pathétique an. Es wäre mir schrecklich peinlich gewesen, wenn Mutter mich dabei entdeckt hätte. Ich war groß genug, um Kapern zu mögen, aber sogar ich mußte zugeben, daß ich zu jung war, um mich für klassische Musik zu begeistern. Ich drehte die Musik auf volle Lautstärke und lauschte zugleich auf Schritte im Treppenhaus. Ab und zu trat der kleine Mann vor die Wohnungstür, um festzustellen, ob jemand die Treppe heraufkam.
Ich hatte Tschaikowsky im Lexikon nachgeschlagen. Nur wenige Tage nach der Uraufführung der Symphonie Pathétique war er an Cholera gestorben. Er hatte sein Lebenswerk vollendet. Nach der Uraufführung der Symphonie Pathétique hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, sein Trinkwasser zu desinfizieren. Er hatte sein eigenes Requiem geschrieben, dann waren ihm die Töne ausgegangen. Er war fertig mit der Welt. Auch ich fühlte mich ein bißchen fertig mit der Welt, wenn die letzten Töne der Symphonie Pathétique verklungen waren.
Der Tod war ein Uema, über das Mutter und ich niemals sprachen. Ich sprach mit Mutter auch nie über Mädchen. Daß ich die Symphonie Pathétique hörte, hielt ich ebenso sorgfältig vor ihr geheim wie die zwei Playboy Hefte, die ich besaß.
Ich war erst sieben, als wir Jenseits von Eden mit James Dean als Cal sahen. Mutter war nahezu in Tränen aufgelöst, als Cals Freundin seinen Vater anfleht, ihn doch zu lieben. Es tut weh, nicht geliebt zu werden, sagte sie, und die Menschen werden davon schlecht. Zeigen Sie ihm, daß Sie ihn lieben. Machen Sie einen Versuch. Bitte!
Cals Vater hatte seinen Sohn gehaßt, weil er glaubte, der Junge stehe auf der Seite der Mutter, die Mann und Kinder verlassen hatte und zu einer eiskalten Puffmutter geworden war. Vor seinem Tod konnte er sich mit seinem Sohn aber doch noch versöhnen. Er bat ihn, die Krankenschwester aus dem Haus zu schicken. Ich will, daß du dich um mich kümmerst. Das war dasselbe wie eine Liebeserklärung an seinen Sohn.
Es fiel Mutter schwer, über diesen Film zu reden. Ich wußte, das lag daran, daß sie Vater weggeschickt hatte. Das kam damals nicht häufig vor. Es war nicht üblich, daß eine Mutter den Vater eines kleinen Kindes aus der Wohnung warf.
Als ich an diesem Abend schlafen ging, schlug Mutter vor, Vater sonntags einmal zum Essen einzuladen. Ich fand den Vorschlag gut, aber es wurde nie etwas daraus, und ich wollte sie auch nicht drängen, ihn anzurufen.
Ich hatte einige vage, fast traumhafte Eindrücke von Dingen, die vor Vaters Auszug in unserer Wohnung passiert waren. Man kann sich an die Stimmung in einem Traum erinnern, auch wenn dessen Handlung längst aus dem Gedächtnis gelöscht ist. Ich wußte, daß ich etwas Hartes und Kaltes zu vergessen versuchte, und es gelang mir so gut, daß ich irgendwann nicht mehr wußte, was es eigentlich gewesen war.
Ich wußte nur noch, daß ich geheimnisvolle Träume von einem Mann gehabt hatte, der genauso groß wie ich und trotzdem ein richtiger Erwachsener mit Hut und Stock gewesen war. Eines Morgens hatte er plötzlich auch am hellichten Tag in der Wohnung gestanden. Er war ziemlich genau an dem Tag bei uns eingezogen, an dem Vater ausgezogen war.
Ich stellte mir vor, daß sich im Traumland jemand nach ihm sehnte. Es war doch möglich, daß auch der kleine Mann Frau und Kind verlassen hatte. Oder vielleicht war er aus dem Märchen, in dem er zu Hause war, ausgewiesen worden, weil er sich nicht anständig benommen hatte. Ich konnte mir aber auch vorstellen, daß er zwischen zwei Wirklichkeiten pendelte. Ich fragte mich, ob der kleine Mann ins Traumland zurückschlüpfte, während ich schlief. Das hätte mich nicht gewundert, schließlich besuchte ich dieses Land dann auch. Seltsam war nur, daß der kleine Mann mitten am Tag durch die Wohnung stolzieren konnte.
Außer mir hatte in der Klasse niemand geschiedene Eltern. Aber eine hatte einen Kommunisten als Vater, und der Vater von Hans Olav hatte im Gefängnis gesessen.
Ich fand es richtig, daß meine Eltern geschieden waren. Ich war lieber nur mit einem Elternteil
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