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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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schon selber holen. Mutter war ziemlich sauer. Es besuchten nicht viele Kinder die Abendvorstellung, und Mutter wußte, daß die Getränkeverkäuferin mich kannte.
    Wenn wir im Kino oder im Theater gewesen waren, erzählte ich Mutter immer, was den Film oder das Stück besser gemacht hätte. Manchmal sagte ich ganz offen, daß ich ein Stück wirklich schlecht gefunden hätte. Ich sagte nie, es sei langweilig gewesen, ich fand Theater niemals langweilig. Selbst ein schlechtes Theaterstück machte beim Zuschauen Spaß, und sei es nur, weil dort lebendige Menschen auftraten. Wenn es ganz besonders schlecht war, war ich erst recht zufrieden, denn dann hatten wir auf dem Heimweg jede Menge Gesprächsstoff.
    Mutter gefiel es nicht, wenn ich ein Theaterstück als schlecht bezeichnete. Ich glaube, es wäre ihr lieber gewesen, wenn ich es langweilig gefunden hätte.
    Wenn wir nach Hause kamen, saßen wir oft noch lange in der Küche und redeten weiter. Mutter zündete Kerzen an und machte uns etwas Leckeres zu essen. Es konnte etwas so Alltägliches sein wie Brote mit Cervelatwurst und Gewürzgurke, aber am liebsten mochte ich Tatar mit rohem Eigelb und Kapern. Mutter hielt mich für zu jung für Kapern, ich glaube, darüber haben wir oft gesprochen, aber im Grunde schmeichelte es ihr wahrscheinlich, daß ich in meinem Alter schon Kapern mochte. Es paßte ihr nur nicht, wenn ich über ein Theaterstück herzog oder über diesen oder jenen elenden Regisseur.
    Ich las die Programme immer sehr genau, denn sie waren ja für mich geschrieben; und natürlich kannte ich die Namen der wichtigsten Schauspieler. Mutter fand es nur etwas übertrieben, als sich herausstellte, daß ich auch die Namen der Bühnenbildner kannte. Aber wenn ich ihr Kavalier sein sollte, dann auch richtig.
    Einmal verlor Ibsens Nora ihr Kleid, es glitt vor den Augen von Dr. Rank einfach zu Boden. Sie waren ganz allein im Wohnzimmer, und Dr. Ranks letzter Satz ließ das Malheur besonders komisch wirken. »Und welche anderen Herrlichkeiten darf ich noch sehen?« hatte er gefragt. »Sie werden gar nichts mehr sehen, denn Sie sind unsittlich«, hatte Nora erwidert und, während sie sich vom Doktor losriß, ihr Kleid verloren. Ich beugte mich zu Mutter hinüber und flüsterte ihr den Namen des zuständigen Gewandmeisters zu.
    Als wir wieder einmal lange in der Küche saßen, gestand ich Mutter, daß sie in meinen Augen Ähnlichkeit mit Jacqueline Kennedy habe. Ich glaube, das hörte sie gern, und ich hatte es mir nicht einmal nur ausgedacht, um ihr eine Freude zu machen; ich fand wirklich, daß Mutter Jacqueline Kennedy glich wie ein Ei dem anderen.
    Als ich elf Jahre alt war, gingen wir in den Chaplin-Film Rampenlicht . Zum ersten Mal ging mir auf, daß ich auch gern etwas mit einem älteren Mädchen angefangen hätte; Claire Bloom in der Rolle der unglücklichen Ballettänzerin brachte mich auf die Idee. Zum zweiten Mal passierte es mir bei Audrey Hepburn als Eliza in My Fair Lady. Mutter hatte Karten für die norwegische Premiere bekommen.
    Chaplin gefiel mir besonders gut, nicht zuletzt wegen der Filmmusik und vor allem wegen des bekannten Fernas aus Rampenlicht, auch wenn die ersten Takte nur ein Spiegelbild der Einleitung zu Tschaikowskys Klavierkonzert in b-Moll waren. Nicht viel anders war es um die Melodie »Smile« aus Moderne Zeiten bestellt; sie war die nach Moll verschobene Variation eines russischen Volksliedes. Ich hatte auch den Verdacht, daß Chaplin sich bei Puccini bedient hatte, jedenfalls konnte er ebenso melodramatisch sein. Aber ich nahm Chaplin diese Anleihen übel, denn ich liebte Tschaikowsky und Puccini, und Mutter liebte sie auch. Wir gingen in die Oper und sahen Madame Butterfly. Ich versuchte nicht zu weinen, aber das fiel mir nicht leicht. Ich rang nicht mit den Tränen, weil Pinkerton Madame Butterfly verließ, und auch nicht, weil sie sich am Ende umbringt, ich hatte seit Beginn des zweiten Aktes gewußt, daß das passieren würde - was mich zum Weinen brachte, war die Musik, und zwar von dem Moment an, wo Madame Butterfly mit dem großen Frauenchor im ersten Akt auf den Hügel tritt. Ich war erst zwölf Jahre alt, aber das Bild der vielen Frauen mit den bunten Sonnenschirmen, die singend den Weg von Nagasaki herkommen, hat sich mir unauslöschlich eingeprägt.
    Zu Hause hörten wir La Bohême mit Jussi Björling und Victoria de los Angeles, und wenn Musetta im vierten Akt die kranke Mimi anbrachte, mußte Mutter jedesmal schluchzen.

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