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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Brüste die Verwechslung bemerkt
     hatte und von ihr abgelassen hatte, ob beide bis zum Schluss so getan hatten, als
     wüssten sie nicht, was der andere wusste, und nur danach stillschweigend
     auseinandergegangen waren, um sich niemals wiederzufinden, das wusste ich nicht und
     würde es wohl auch nicht mehrerfahren. Was sich aber alle im Dorf
     erzählten und was auch Rosmarie und ich und Mira oft zu hören bekamen, war die
     Geschichte vom alten Boskopbaum im Obstgarten der Deelwaters, der in einer warmen
     Sommernacht zu blühen begann und am nächsten Morgen weiß bereift war wie vom Frost.
     Doch hätten diese wunderbaren Blüten keine Kraft gehabt und seien noch am selben
     Vormittag still und in dicken Flocken zu Boden gefallen. Der ganze Hof stand
     ehrfuchtsvoll, misstrauisch, beglückt oder einfach nur verwundert um den Baum herum.
     Einzig Anna Deelwater sah ihn nicht, sie hatte sich verkühlt, fühlte ein leichtes
     Brennen im Hals und musste im Bett bleiben. Im Bett blieb sie, der Brand versengte
     die zarten Flimmerhärchen ihrer Bronchien und griff weiter um sich, bis sich die
     Flügel ihrer Lunge entzündeten und schließlich erlahmten. Carsten Lexow sah sie nie
     wieder, und vier Wochen nach Erblühen des Apfelbaums war sie tot. Ein tragischer
     Fall von Pneumonie.

    Herr Lexow schaute auf die Uhr und fragte, ob er gehen
     solle. Ich wusste nicht, wie spät es war, wusste aber auch nicht, wie es weiterging,
     schließlich waren wir seiner eigenen Geschichte mit Bertha noch keinen Schritt näher
     gekommen. Aber vielleicht sollte er doch gehen? Er sah mein Zögern und stand sofort
     auf.
    - Bitte, Herr Lexow, wir sind noch nicht fertig.
    - Nein, sind wir nicht, aber vielleicht für heute Abend?
    - Mag sein. Für heute Abend. Kommen Sie morgen Abend
     wieder?
    - Nein, da ist eine Gemeinderatsversammlung, die ich nicht
     verpassen kann.
    - Morgen Nachmittag zum Kaffee?
    - Danke sehr.
    - Danke für die Suppe. Und die Milch. Und für das Haus, den Garten
     –
    - Nichts zu danken, ich bitte Sie, Iris, Sie wissen, dass
     ich zu danken habe und mich zu entschuldigen.
    - Bei mir haben Sie sich ganz gewiss nicht zu
     entschuldigen. Wofür auch? Dafür, dass Sie meine Großmutter liebten bis in den Tod
     oder für den Tod meiner Großtante Anna? Ich bitte Sie.
    - Nein, dafür muss ich mich nicht bei Ihnen entschuldigen,
     sagte er und schaute mich dabei freundlich an, ich konnte sehen, warum meine
     Großtante Anna ihm verfallen war.
    - Nur dafür, dass niemand in Ihrer Familie wusste, dass
     ich einen Zweitschlüssel hatte, nicht einmal Ihre Tante Inga. Sie dachte, ich schaue
     nur ab und zu mal ums Haus herum.
    Er fischte in seiner Hosentasche, und zum zweiten Mal
     wurde mir der riesige messingfarbene Schlüssel des Hauses in die Hand gedrückt. Herr
     Lexow besaß anscheinend den Zweitschlüssel zu vielen Dingen, dachte ich, als ich das
     angewärmte Metall auf den Küchentisch legte.
    Ich begleitete den alten Lehrer und Liebhaber meiner
     Großmutter zur Tür.
    - Morgen zum Kaffee also?
    Er winkte knapp und ging etwas schwerfällig die
     Vordertreppe hinunter, verschwand kurz unter den Rosen und bog dann nach rechts zu
     seinem Fahrrad, das er in der Einfahrt an der Hauswand abgestellt hatte. Ich hörte
     den Ständer seines Rades über die Platten schleifen, kurz darauf das leise Singen
     seines Dynamos, als er hinter der Hecke auf dem Bürgersteig vorbeifuhr. Dann
     streifte ich mir die Socken ab, nahm den Schlüssel vom Haken und ging hinaus, um das
     Gatter zu schließen.
    Ich lief hinüber zum Garten, in dem jetzt im Dunkeln an bestimmten
     Ecken Berthas Geist aufschien. Ihr Garten war inzwischen auch zu einer dieser
     Woll-Grotesken geworden, die meine Mutter bei sich im Kleiderschrank aufbewahrte:
     gähnende Löcher, wucherndes Gestrüpp und irgendwo die Ahnung eines Musters.
    Anna liebte Boskop, Bertha Cox Orange.
    Was wollte Bertha meiner Mutter damals sagen? Woran
     erinnerte sie sich, und welche Dinge ließ sie in Vergessenheit geraten? Das
     Vergessene blieb nie ohne Spuren, es lenkte immer, heimlich, die Aufmerksamkeit auf
     sich und auf sein Versteck. Der Kuss des Mädchens schmeckte nach Boskop, sagte Herr
     Lexow.

    Als Bertha einen Monat nach dem sommerlichen
     Apfelblütenwunder weinend durch den Garten lief, sah sie, dass die roten
     Johannisbeeren weiß geworden waren. Die schwarzen waren schwarz geblieben. Alle
     anderen Johannisbeeren trugen nun das grünliche Grauweiß von

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