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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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einem singenden Geräusch an ihren
     Nylonstrumpfhosen rieb. Eine sanfte Heilige sei sie gewesen, sagte Tante Inga. Meine
     Mutter aber sagte etwas anderes: Ihre Schwiegermutter habe sich immer für andere
     Familien krummgemacht, aber ihr Haus habe sie nicht in Schuss gehalten, selten
     gekocht, und um ihre Kinder hätte sie sich ruhig auch mehr kümmern können. Mein
     Vater war sehr pedantisch, er liebte systematische Ordnung,
     bewegungsrationalistisches Aufräumen und effizientes Putzen. Chaos fügte ihm
     körperlichen Schmerz zu,und so räumte er abends meistens hinter
     seiner Mutter auf. Schalk und Witz hatten die vier Kinder von ihrer
     heilig-nüchternen Mutter nicht mitbekommen. Sich – wenn auch nicht andere – zu
     amüsieren, lernte er erst später von meiner Mutter, lange nachdem er sie am Ende der
     Marburger Eislaufsaison doch noch angesprochen hatte.

    Als das Eis endlich stumpf zu werden begann und sich unter
     den Brücken schon Pfützen bildeten, da fasste sich mein Vater ein Herz, und nach
     vierzehn Tagen des täglichen Umeinanderherumkurvens stellte er sich förmlich vor und
     sagte: »Der Gleitreibungskoeffizient von Schlittschuhen auf Eis beträgt im Schnitt
     0,01. Ganz egal, wie schwer man ist, ist das nicht erstaunlich?«
    Christa wurde sehr rot und sah, dass die Eisspäne vorn auf
     den Zacken ihrer Schlittschuhe schon geschmolzen waren und wie Tränen vom blanken
     Metall rollten. Nein, das habe sie nicht gewusst, und ja, es sei schon sehr
     erstaunlich. Danach waren sie beide stumm. Schließlich fragte Christa, nach einer
     langen, sehr langen Pause, woher er das denn so gut wisse. Und er antwortete schnell
     und fragte, ob er ihr mal das Physikalische Institut zeigen könne. Dort gebe es auch
     eine Maschine, in der Trockeneis hergestellt würde. Gern, sagte Christa, ohne
     aufzublicken und mit einem angestrengten Lächeln im roten Gesicht. Dietrich nickte
     und sagte »Auf Wiedersehen«, und beide gingen rasch und sehr erleichtert
     auseinander.
    Am nächsten Tag war die Lahn ganz aufgerissen, die weichen
     Eisschollen schoben sich bräunlich ans Ufer, und Dietrich wusste nicht, wo er die
     Schlittschuhläuferin wiederfinden sollte.

    In der Nacht schien der Mond auf mein Kopfkissen und riss scharfe
     Schatten. Ich hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Das Bett mit seinen drei
     Matratzenteilen war schmal und die Decke schwer.
    Längst hätte ich bei Jon anrufen sollen, ich hätte
     wenigstens einmal an ihn denken können. Das schlechte Gewissen machte mich hellwach.
     Jetzt dachte ich an ihn. Jonathan, noch bis vor kurzem mein Freund, jetzt mein
     Ex-Freund, mein Aus-Freund. Er wusste nicht einmal, dass ich hier war, aber das war
     vielleicht auch egal, er war schließlich auch nicht dort, wo ich gewesen war, bevor
     ich hierherkam. Er lebte in England, und dort würde er auch bleiben. Ich aber nicht.
     Als er mich vor zwei Monaten fragte, ob wir zusammenziehen wollten, hatte ich
     plötzlich das Gefühl, dass es Zeit sei, nach Hause zu gehen. Auch wenn ich sein Land
     sehr liebte. Ja, gerade weil mir klar wurde, dass ich weniger aus Liebe zu ihm, denn
     aus Liebe zu seinem Land so lange dort geblieben war, musste ich gehen. Und nun war
     ich hier. Nun besaß ich sogar ein Stückchen Land in diesem Land. Ich weigerte mich,
     dies als ein Zeichen zu sehen, aber es bestärkte mich in meinem Entschluss, wieder
     hier zu sein.

    Wenn man sein Gedächtnis verliert, vergeht die Zeit erst
     viel zu schnell, dann gar nicht mehr. »Ach, das ist doch schon so lange her«, sagte
     meine Großmutter Bertha über Dinge, die eine Woche, dreißig Jahre oder zehn Sekunden
     zurücklagen. Dabei machte sie eine wegwerfende Handbewegung, und ihr Ton war ein
     wenig vorwurfsvoll. Sie war immer auf der Hut. Wurde sie etwa geprüft?
    Das Gehirn versandete wie ein unbefestigtes Flussbett.
     Erst bröckelte es nur ein bisschen vom Rand, dann klatschten große Stücke des Ufers
     ins Wasser. Der Fluss verlorseine Form und Strömung, seine
     Selbstverständlichkeit. Schließlich floss gar nichts mehr, sondern schwappte nur
     hilflos nach allen Seiten. Weiße Ablagerungen im Gehirn ließen die elektrischen
     Ladungen nicht durch, alle Enden wurden isoliert, und am Ende auch der Mensch:
     Isolation, Insel, Gerinnsel, England, Elektronen und Tante Ingas Bernsteinreifen,
     Harz wurde hart im Wasser, Wasser wurde hart, wenn der Frost klirrte, Glas war aus
     Silizium, und Silizium war Sand, und Sand

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