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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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rieselte durch die Eieruhr, und ich sollte
     jetzt schlafen, es wurde langsam Zeit.

    Natürlich hatten sich die beiden bald nach dem Eislaufen
     auf der Lahn wieder gesehen. In Marburg hat man kaum eine Möglichkeit, sich aus dem
     Weg zu gehen. Erst recht nicht, wenn man sich sucht. Schon in der nächsten Woche
     trafen sie sich auf dem Ball des Physikalischen Instituts, wohin meine Mutter mit
     einem Kommilitonen, dem Sohn eines Kollegen meines Großvaters, gegangen war. Sie
     gingen normalerweise nicht zusammen aus, da ihre Väter eine Verbindung zwischen
     ihnen sehr gerne gesehen hätten. Das ließ Christa in seiner Gegenwart erstarren und
     ihn in der ihren verblöden. Dieses eine Mal war der Abend allerdings ein Erfolg.
     Christa war so damit beschäftigt, sich nach allen Seiten hin umzublicken, dass sie
     gelassen blieb. Der Sohn des Kollegen fühlte zum ersten Mal nicht, wie die
     Eisesstarre seiner Begleiterin sein Gehirn und seine Zunge wie mit Raureif überzog,
     und er schaffte sogar, ihr ein, zwei Mal mit spitzen Kommentaren über erste mutige
     Tänzer ein Lächeln zu entlocken. Christa war es gewesen, die dem Sohn des Kollegen
     den Ball im Physikalischen Institut nahegelegt hatte. Und obwohl er beim Anblick
     ihrer zusammengepressten Lippenmerkte, wie er sich wieder beim
     Sprechen verhaspelte, so war er doch noch verständig genug, um sie zu diesem Ball
     einzuladen.

    Christa sah Dietrich zuerst, schließlich hatte sie ja auch
     mit ihm gerechnet, aber er nicht mit ihr. So war ihre erste Verlegenheit schon ein
     wenig gewichen, als er sie kurz darauf auch sah. Seine grauen Augen leuchteten auf,
     er riss die Hand in die Höhe und neigte dann erst den Kopf, um sich knapp zu
     verbeugen. Zielstrebig und mit federndem Schritt ging er auf Christa zu und forderte
     sie auf der Stelle zum Tanz auf und dann noch einmal, dann holte er ihr ein Glas
     Weißwein und tanzte danach wieder mit ihr. Christas Begleiter schaute beunruhigt vom
     Getränketisch aus zu. Er war einerseits erleichtert, dass dieses Mal alles so
     einfach ging und er nicht mit ihr reden musste, fühlte aber doch, dass es so auch
     nicht ganz stimmte. Zudem sah er mit einer Mischung aus Erstaunen, Genugtuung und
     Eifersucht, dass seine Begleiterin eine begehrte Tänzerin war, und beschloss, sie
     sofort aufzufordern. Was das Gegenteil dessen war, was er sich für diesen Abend
     vorgenommen hatte.
    Glücklicherweise tanzte er schlecht und mein Vater gut.
     Und meine Mutter tanzte gut mit meinem Vater, weil der sie schließlich schon auf dem
     Eis gesehen hatte, das befreite sie von ihrer erstickenden Schüchternheit. Das und
     die Tatsache, dass mein Vater fast noch schüchterner war als sie selbst. Also
     tanzten sie auf allen Marburger Bällen der Saison: Tanz in den Mai,
     Sommertanzvergnügen, Fakultätsfeste, Uniball. Beim Tanzen musste man nicht reden,
     wenn man nicht wollte, andere Leute waren dabei, und man konnte jederzeit nach Hause
     gehen. Tanzen war im Grunde genommen eine Sportveranstaltung, fand Christa, eine Art
     Paarlaufen.
    Christas Schwestern merkten sofort, dass sie ein Geheimnis hatte.
     In den Semesterferien, die sie selbstredend in Bootshaven verbrachte, war sie – wie
     alle jungen Frauen mit Geheimnis – morgens immer die Erste am Briefkasten. Doch auf
     die mal bohrenden, mal schmeichelnden Fragen ihrer Schwestern hin wurde sie nur rot
     und lachte oder wurde rot und schwieg. Als Tante Inga im kommenden Semester in
     Marburg anfing, Kunstgeschichte zu studieren, gingen beide Schwestern auf den
     Erstsemesterball. Dietrich Berger war Inga schon vorgestellt worden, zusammen mit
     einer ganzen Gruppe junger Männer aus Dietrichs Studentenverbindung. Ein großer,
     schöner Sportstudent hatte ihr, Inga, gut gefallen, und sie nahm an, dass er es war.
     Als sie jedoch sah, dass Christa die Schuhe mit den hohen Absätzen, die so wunderbar
     zu ihrem braunen Seidenkleid passten, nicht einmal eines Blickes würdigte, sondern
     gleich nach den ganz flachen Ballerinas griff, da wusste Inga, wer es war: der knapp
     einssechsundsiebzig große Dietrich Berger.
    Im selben Jahr verlobten sie sich, und als meine Mutter
     vierundzwanzig war und ihr verhasstes Referendariat an einer Realschule in Marburg
     beendet hatte, heirateten sie und zogen hinunter ins Badische, wo mein Vater eine
     Stelle an einem Physikalischen Forschungszentrum bekam. Seitdem war meine Mutter
     heimwehkrank.

    Sie konnte Bootshaven nicht vergessen, und

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