Der Geschmack von Apfelkernen
rieselte durch die Eieruhr, und ich sollte
jetzt schlafen, es wurde langsam Zeit.
Natürlich hatten sich die beiden bald nach dem Eislaufen
auf der Lahn wieder gesehen. In Marburg hat man kaum eine Möglichkeit, sich aus dem
Weg zu gehen. Erst recht nicht, wenn man sich sucht. Schon in der nächsten Woche
trafen sie sich auf dem Ball des Physikalischen Instituts, wohin meine Mutter mit
einem Kommilitonen, dem Sohn eines Kollegen meines Großvaters, gegangen war. Sie
gingen normalerweise nicht zusammen aus, da ihre Väter eine Verbindung zwischen
ihnen sehr gerne gesehen hätten. Das ließ Christa in seiner Gegenwart erstarren und
ihn in der ihren verblöden. Dieses eine Mal war der Abend allerdings ein Erfolg.
Christa war so damit beschäftigt, sich nach allen Seiten hin umzublicken, dass sie
gelassen blieb. Der Sohn des Kollegen fühlte zum ersten Mal nicht, wie die
Eisesstarre seiner Begleiterin sein Gehirn und seine Zunge wie mit Raureif überzog,
und er schaffte sogar, ihr ein, zwei Mal mit spitzen Kommentaren über erste mutige
Tänzer ein Lächeln zu entlocken. Christa war es gewesen, die dem Sohn des Kollegen
den Ball im Physikalischen Institut nahegelegt hatte. Und obwohl er beim Anblick
ihrer zusammengepressten Lippenmerkte, wie er sich wieder beim
Sprechen verhaspelte, so war er doch noch verständig genug, um sie zu diesem Ball
einzuladen.
Christa sah Dietrich zuerst, schließlich hatte sie ja auch
mit ihm gerechnet, aber er nicht mit ihr. So war ihre erste Verlegenheit schon ein
wenig gewichen, als er sie kurz darauf auch sah. Seine grauen Augen leuchteten auf,
er riss die Hand in die Höhe und neigte dann erst den Kopf, um sich knapp zu
verbeugen. Zielstrebig und mit federndem Schritt ging er auf Christa zu und forderte
sie auf der Stelle zum Tanz auf und dann noch einmal, dann holte er ihr ein Glas
Weißwein und tanzte danach wieder mit ihr. Christas Begleiter schaute beunruhigt vom
Getränketisch aus zu. Er war einerseits erleichtert, dass dieses Mal alles so
einfach ging und er nicht mit ihr reden musste, fühlte aber doch, dass es so auch
nicht ganz stimmte. Zudem sah er mit einer Mischung aus Erstaunen, Genugtuung und
Eifersucht, dass seine Begleiterin eine begehrte Tänzerin war, und beschloss, sie
sofort aufzufordern. Was das Gegenteil dessen war, was er sich für diesen Abend
vorgenommen hatte.
Glücklicherweise tanzte er schlecht und mein Vater gut.
Und meine Mutter tanzte gut mit meinem Vater, weil der sie schließlich schon auf dem
Eis gesehen hatte, das befreite sie von ihrer erstickenden Schüchternheit. Das und
die Tatsache, dass mein Vater fast noch schüchterner war als sie selbst. Also
tanzten sie auf allen Marburger Bällen der Saison: Tanz in den Mai,
Sommertanzvergnügen, Fakultätsfeste, Uniball. Beim Tanzen musste man nicht reden,
wenn man nicht wollte, andere Leute waren dabei, und man konnte jederzeit nach Hause
gehen. Tanzen war im Grunde genommen eine Sportveranstaltung, fand Christa, eine Art
Paarlaufen.
Christas Schwestern merkten sofort, dass sie ein Geheimnis hatte.
In den Semesterferien, die sie selbstredend in Bootshaven verbrachte, war sie – wie
alle jungen Frauen mit Geheimnis – morgens immer die Erste am Briefkasten. Doch auf
die mal bohrenden, mal schmeichelnden Fragen ihrer Schwestern hin wurde sie nur rot
und lachte oder wurde rot und schwieg. Als Tante Inga im kommenden Semester in
Marburg anfing, Kunstgeschichte zu studieren, gingen beide Schwestern auf den
Erstsemesterball. Dietrich Berger war Inga schon vorgestellt worden, zusammen mit
einer ganzen Gruppe junger Männer aus Dietrichs Studentenverbindung. Ein großer,
schöner Sportstudent hatte ihr, Inga, gut gefallen, und sie nahm an, dass er es war.
Als sie jedoch sah, dass Christa die Schuhe mit den hohen Absätzen, die so wunderbar
zu ihrem braunen Seidenkleid passten, nicht einmal eines Blickes würdigte, sondern
gleich nach den ganz flachen Ballerinas griff, da wusste Inga, wer es war: der knapp
einssechsundsiebzig große Dietrich Berger.
Im selben Jahr verlobten sie sich, und als meine Mutter
vierundzwanzig war und ihr verhasstes Referendariat an einer Realschule in Marburg
beendet hatte, heirateten sie und zogen hinunter ins Badische, wo mein Vater eine
Stelle an einem Physikalischen Forschungszentrum bekam. Seitdem war meine Mutter
heimwehkrank.
Sie konnte Bootshaven nicht vergessen, und
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