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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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eine Art Fluchtweg, wie ein offenes Fenster eben. Doch Rosmarie
     behauptete, er fürchte, anders als jener Vogel, nicht sich selbst, sondern Frau Koop
     das Genick zu brechen. Was wir damals nicht wissen konnten, war, dass es Rosmarie
     war, die sich das Genick brechen sollte, und zwar beim Flug durch eine Glasscheibe.
    Manches von dem, was Herr Lexow mir zu erklären versuchte,
     reimte ich mir selbst zusammen, wenn ich in seine blauen Augen schaute und die
     inzwischen nicht mehr goldenen, sondern eher ockerfarbenen Ringe um seine Pupillen
     entdeckte. Das Weiße drum herum war schon ein wenig gelbstichig. Er musste weit über
     achtzig sein. Und wer war er jetzt überhaupt? Mein Großonkel? Nein, als Vater meiner
     Tante war er mein Großvater. Aber das war er ja nicht, das war Hinnerk Lünschen. Er
     war eben »ein Freund der Familie«, ein Zeuge. Vor ein paar Jahren, als meine
     Großmutter schon nicht mehr wusste, dass es mich gab, ging meine Mutter für zwei
     Wochen zu ihr. Es war einer ihrer letzten Besuche, bevor Bertha ins Heim kam. An
     einem wärmeren Nachmittag saßen beide hinterm Haus auf der Obstbaumwiese. Bertha
     schaute Christa plötzlich so wach und eindringlich an, wie sie es schon seit langem
     nicht mehr getan hatte, und teilte ihr mit fester Stimme mit, Anna habe Boskop
     geliebt, sie selbst aber Cox Orange. Als sei dies das letzte Geheimnis gewesen, das
     sie noch preiszugeben hatte.

    Anna liebte Boskop, Bertha Cox Orange. Im Herbst duftete
     das Haar der Schwestern nach Äpfeln, ihre Kleiderund Hände
     sowieso. Sie kochten Apfelmus und Apfelmost und Apfelgelee mit Karneel, und meistens
     hatten sie Äpfel in der Schürzentasche und angebissene Äpfel in der Hand. Bertha aß
     erst schnell einen breiten Ring um den Bauch des Apfels herum, dann vorsichtig unten
     um die Blüte, dann oben um den Stiel, das Kerngehäuse warf sie in hohem Bogen fort.
     Anna aß langsam und genussvoll, von unten nach oben – alles. Auf den Kernen kaute
     sie noch Stunden herum. Als Bertha ihr vorhielt, dass die Kerne innen giftig seien,
     erwiderte Anna, sie schmeckten aber nach Marzipan. Nur den Stiel spuckte sie aus.
     Das hatte mir Bertha erzählt, als sie einmal feststellte, dass ich die Äpfel so aß
     wie sie selbst. Die meisten Menschen aßen doch so ihre Äpfel.

    Im Sommer gab Carsten Lexow den Schülern einen Tag
     hitzefrei, zur Beerenlese, wie er es nannte. Bertha lachte und sagte, diese
     Lesestunde sei ihr die liebste. Carsten Lexow bemerkte die kleinen weißen Zähne
     seiner Schülerin und die fahrige Leichtigkeit ihrer großen Hand, mit der sie sich
     die Haare im Nacken zurück in die Zöpfe zu streichen versuchte. Da ihr Lehrer sie
     immer noch anschaute und weil sie ihn vielleicht mit ihrer vorwitzigen Bemerkung
     verärgert hatte, errötete sie, wandte sich ab und stakste davon. Herr Lexow starrte
     Bertha mit klopfendem Herzen nach und sagte nichts. Anna sah alles, erkannte den
     Blick, mit dem Lexow ihrer Schwester folgte, erkannte ihn so, wie man das eigene
     Gesicht im Spiegel erkannte, und eilte ihrerseits mit tiefroten Wangen und gesenktem
     Kopf der Schwester nach.

    Anna liebte Lexow, Lexow liebte Bertha, und Bertha? Sie
     liebte tatsächlich Heinrich Lünschen, Hinnerk, wie ihnalle
     nannten. Er war der Sohn des Wirts aus dem Dorfkrug, ein Niemand ohne Land. Nur zwei
     kleine Weiden am äußeren Dorfrand besaß die Familie, und die waren an einen noch
     ärmeren Schlucker verpachtet. Hinnerk hasste die Wirtschaft seiner Eltern. Hasste
     den Geruch von Küche und abgestandenem Bier am Morgen in der Schankstube. Hasste die
     leidenschaftlichen und lauten Streitereien seiner Eltern, hasste ihre ebenso
     leidenschaftlichen und lauten Versöhnungen. Einer seiner kleinen Brüder, er selbst
     war der Älteste, sagte einmal, während sie beide in der dunklen Küche einer
     besonders heftigen Auseinandersetzung lauschen mussten, dass sie wohl bald wieder
     ein Brüderchen kriegen würden. Hinnerk fuhr hoch, er hasste die vielen
     Schwangerschaften seiner Mutter.
    - Woher weißt du das?
    - Na, immer wenn sie sich gezankt haben, kriegen wir bald
     wieder ein Brüderchen.
    Hinnerk lachte kalt. Er musste hier raus. Er hasste es.

    Herrn Deelwater war er aufgefallen, weil der Pastor und
     der alte Lehrer seinen Verstand über alle Maßen gelobt hatten. Hinnerk war klüger
     als alle im Dorf, das wusste er selbst sehr gut, und ein paar andere, die auch nicht
     dumm waren, merkten es ebenfalls.

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