Der Geschmack von Apfelkernen
Hinnerk war öfter bei den Deelwaters. Während der
Erntezeiten half er dort aus und bekam etwas Geld. Noch mehr Geld jedoch bekam er
vom Pastor, was Hinnerk, der sehr stolz war, jedoch nur dazu bewog, irgendwann auch
diesen zu hassen und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, nämlich der
Beerdigung seiner Mutter, aus der Kirche auszutreten. Die Kosten für die Predigt
könne man sich sparen, jede andere tue es doch genauso gut, sie hörten sich doch
immer gleich an, nur setze der Pastor den jeweiligen Namen ein, aber dassei ja auch schon eine stramme Leistung. Der Pastor, der viel Geld
in Hinnerks Studium gesteckt hatte, dessen, zugegeben nicht besonders weitläufige,
Bibliothek Hinnerk immer zur Verfügung gestanden hatte, war tief gekränkt, nicht
allein wegen Hinnerks Respektlosigkeit und Undankbarkeit, sondern auch deshalb, weil
Hinnerk der Wahrheit allzu nahe gekommen war. Doch beide juristischen Examen waren
schon mit Bravour bestanden, und der junge Anwalt, frisch verlobt mit der
Deelwater-Tochter, war finanziell nicht mehr vom Pastor abhängig. Der Pastor wusste
das, und er wusste auch, dass Hinnerk wusste, dass er es wusste, und das ärgerte ihn
am allermeisten.
Ich erinnerte mich an Hinnerk Lünschen als einen
liebevollen Großvater, der die Gabe hatte, überall, wo er sich hinlegte, einschlafen
zu können, und von dieser Gabe auch weidlich Gebrauch machte. Gewiss, seine Launen
waren unberechenbar. Aber er war nicht mehr hasserfüllt, sondern ein stolzer Notar,
stolzer Kanzleiinhaber, stolzer Ehemann einer schönen Frau und damit stolzer
Besitzer eines stolzen Anwesens, stolzer Vater dreier schöner Töchter und noch
schönerer Enkelinnen, wie er Rosmarie und mir immer wieder versicherte, wobei er uns
stolze Portionen Fürst-Pückler-Eiscreme auf die Kristallteller schaufelte. Alles
hatte sich umgekehrt, jetzt wurde er, Hinnerk, von vielen gehasst, hasste aber
selbst nicht mehr, schließlich hatte er alles erreicht, was er wollte. Er war immer
noch der klügste Mann im Dorf, und jetzt wussten es alle.
Sogar ein Familienwappen hatte er sich malen lassen, um
seine niedere Herkunft vergessen zu machen, was natürlich Unsinn war, denn
schließlich kamen die Leute zu ihm, weil er mit ihnen Plattdeutsch sprach, und
nichtwegen seines hohen Stammbaums. Also blieb das gerahmte
Bild des Wappens in der Rumpelkammer, der früheren Mädchenkammer, wo es auch jetzt
noch hing. Doch erinnerte ich mich auch, dass beim Anblick des Wappens immer ein
hintergründiges Lächeln um seine scharf geschnittenen Lippen zuckte: Genugtuung oder
Selbstironie? Das wusste er wohl selbst nicht genau.
Bertha liebte Hinnerk. Sie liebte seine düstere Aura, sein
Schweigen und seinen beißenden Spott gegenüber anderen. Immer jedoch, wenn er Anna
und sie traf, hellte sich sein Gesicht auf, dann lächelte er höflich und scherzte,
und er konnte aus dem Stegreif ein Sonett auf den Apfelrest dichten, den Anna gerade
in den Mund stecken wollte, eine feierliche Ode auf Berthas linken Zopf singen oder
im Hof auf den Händen laufen, sodass die Hühner bestürzt gackernd davonstoben. Die
beiden Mädchen lachten laut, Bertha zupfte sich verlegen an der Schleife des linken
Zopfes, und Anna warf mit gespieltem Gleichmut und verstecktem Lächeln ihren
Apfelrest in den Flieder und verzichtete dieses Mal darauf, ihn ganz zu verspeisen.
Nun wollte Hinnerk aber zunächst Anna. Natürlich wusste
er, dass sie die älteste Tochter von Carl Deelwater war, wäre sie es nicht gewesen,
hätte er sie wohl nicht gewollt, jedenfalls nicht so. Doch es war nicht ihr Erbe,
das ihn lockte. Jedenfalls nicht nur. Vielmehr bewunderte er ihren Status, ihre
ruhige Selbstsicherheit, die ihm so völlig abging. Natürlich sah er auch ihre
Schönheit, ihren Körper mit den vollen Brüsten und Hüften und ihren biegsamen
Rücken. Die herzliche Gleichgültigkeit, die Anna ihm entgegenbrachte, reizte ihn,
doch achtete er stets darauf, beiden Mädchen gleich viel Aufmerksamkeitzu schenken. Aus Berechnung oder Respekt? Aus Zuneigung für
Bertha oder aus Mitleid mit der jüngeren Tochter, über deren Gefühle er sich im
Klaren sein musste?
Meine Großmutter hatte gewusst, dass sie Hinnerks zweite
Wahl gewesen war. Sie hatte es Rosmarie und mir einmal gesagt, ohne Bitterkeit,
nicht einmal mit Bedauern, sehr sachlich, als habe es so sein müssen. Wir hörten das
nicht gern,
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