Der Geschmack von Apfelkernen
fast waren wir böse auf Bertha, so durfte Liebe nicht sein, fanden wir.
Und ohne dass wir dies je abgesprochen hätten, erzählten wir es nie Mira.
Jetzt, da Inga nicht mehr Hinnerks Tochter war, konnte ich
mir Berthas fehlende Bitterkeit gegenüber Hinnerk besser erklären, vielleicht auch
ihre Ergebenheit. Zudem kam es bei ihr eben immer, wie es kam, wohin die Äpfel
fielen, da lagen sie, und meistens fielen sie ja, wie sie selbst gern sagte, auch
nicht weit vom Stamm. Nachdem Bertha schließlich mit dreiundsechzig Jahren vom
Apfelbaum gefallen war und sich daraufhin eine Erinnerung nach der anderen von ihr
löste und abfiel, fügte sie sich dieser Auflösung kampflos und traurig. Schon immer
begannen die Bewegungen des Schicksals – auch die unserer Familie – zunächst mit
einem Sturz. Und mit einem Apfel.
Herr Lexow sprach ruhig und schaute in seinen Becher. Es
war inzwischen dämmrig geworden, und wir hatten die Lampe mit dem Strohschirm
angeknipst, die über dem Küchentisch hing. Eines Nachts, sagte Herr Lexow und
seufzte in seine Milch, es sei den ganzen Tag über sehr warm und drückend gewesen,
habe er einen Spaziergang gemacht, der ihn nicht ganz zufällig am Haus der
Deelwaters vorbeigeführt habe.
Das Haus lag im Dunkeln. Er trat langsam in die Einfahrt und ging
geradeaus am Haus und der Scheune entlang zur Obstbaumwiese. Es war ihm plötzlich
peinlich, hier herumzuschleichen, und so nahm er sich vor, einfach bis nach hinten
durchzugehen und dort über den Zaun zur angrenzenden Weide zu klettern, um dann quer
über die Weide zurück auf den Schleusenweg zu gelangen. Als er unter den
dichtbelaubten Apfelbäumen war, schrie er auf. Etwas Hartes hatte ihn über dem
linken Auge getroffen. Kein Stein, so hart war es nicht gewesen, aber nass, und beim
Aufprall an seiner Schläfe war es zerborsten.
Ein Apfel.
Vielmehr der Rest eines Apfels. Blüte und der untere Teil
des Fruchtfleisches fehlten, die obere Hälfte mit Stiel lag in zwei Teilen vor
seinem Schuh. Lexow blieb stehen, sein Atem kam schnell und stoßweise. Im Baum
raschelte es. Er schaute angestrengt durch die Blätter nach oben, doch es war zu
dunkel. Carsten hatte die Ahnung von etwas Großem, Weißem, das dort oben zu
schimmern schien. Es raschelte wieder, und die Äste des Baums zitterten heftig. Als
das Mädchen mit einem Plumps vom Baum sprang, konnte Carsten sein Gesicht nicht
erkennen, so dicht stand es vor ihm. Das Gesicht kam noch näher und küsste Carsten
auf den Mund. Carsten schloss die Augen, der Mund war warm und schmeckte nach Apfel.
Nach Boskop. Und nach Bittermandel. Er sollte den Geschmack nie wieder vergessen.
Noch bevor er etwas sagen konnte, küsste der Mund des Mädchens Carstens Mund noch
einmal, und so küsste er ihn zurück, und beide sanken in das Gras unter dem
Apfelbaum und zogen sich atemlos und mit ungeschickten Fingern die Kleider vom Leib.
Carstens Baumnymphe trug nur ein Nachthemd, also war es nicht allzu schwierig, sie
davonzu befreien, doch wenn zwei Menschen versuchten, sich
auszuziehen, den anderen auszuziehen, ihn dabei aber auch küssen und zu keinem
Augenblick aus den Armen lassen wollten, dann war es nicht so leicht, zumal beide
nicht geübt waren in dem, was sie taten. Aber sie taten es und taten noch viel mehr,
und die Erde glühte um sie herum, sodass der Apfelbaum, unter dem sie lagen, obwohl
es schon Juni war, zum zweiten Mal anfing, Knospen auszutreiben.
Herr Lexow berichtete natürlich nichts über Einzelheiten
der Liebkosungen, die unter dem Apfelbaum ausgetauscht wurden, und darüber war ich
auch froh, aber seine leisen und doch heftig gesprochenen Worte, die Augen noch
immer fest auf den Becher gerichtet, riefen Bilder in mir hervor, die mir vertraut
vorkamen, als seien sie mir früher einmal erzählt worden, als habe ich sie als Kind
gehört, vielleicht bei einem Erwachsenengespräch, das ich heimlich von einem
Versteck aus belauscht und jetzt erst verstanden hatte. So wurde Carsten Lexows
Geschichte Teil meiner eigenen Geschichte und Teil meiner Geschichte über die
Geschichte von meiner Großmutter und Teil meiner Geschichte über die Geschichte
meiner Großmutter über die Geschichte von Tante Anna.
Ob Carsten Lexow nun doch irgendwann laut Berthas Namen
gerufen hatte und sich daraufhin die Frau aus seinen Armen befreit hatte und
weggerannt war, ob er beim Liebkosen ihrer vollen
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