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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Asche. In diesem Jahr
     gab es viele Tränen und besonders guten Johannisbeergelee.

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    V. Kapitel
    In der Nacht wachte ich auf, weil ich fror. Beide Fenster
     und beide Türen von Christas Zimmer hatte ich offen gelassen, und jetzt wehte der
     Nachtwind kalt hindurch. Ich zog die Decke wieder hoch auf das Bett und dachte an
     meine Mutter. Sie liebte die Kälte. Im Badischen waren die Sommer so heiß, dass sie
     nicht nur allen Grund hatte, eine Klimaanlage zu besitzen, sondern dieselbe auch
     noch ganz aufdrehte, alle Getränke mit Eiswürfeln zu sich nahm und sich alle paar
     Stunden aus der Tiefkühltruhe, die im Keller stand, in einer kleinen Glasschüssel
     Vanilleeis holte.
    Doch wenn es Winter war, dann froren die Kiesgruben,
     Baggerseen, Kanäle und Altrheinarme dort schneller zu als die Seen hier oben in der
     regennassen, norddeutschen Tiefebene.
    Und dann lief sie Schlittschuh.

    Sie lief Schlittschuh wie sonst niemand, sie war nicht
     besonders anmutig, sie tanzte nicht, nein, sie flog, sie rannte, sie brannte auf dem
     Eis. Mein Großvater hatte ihr früh ein Paar weiße Schlittschuhe gekauft. Er selbst
     war stolz auf seine Fahrkünste, die sich auf zügiges Vorwärtslaufen und
     wellenförmiges Rückwärtslaufen beschränkten. Er konnte auch große Kreise fahren,
     indem er mit dem äußeren Bein das innere kreuzte. Doch das, was seine Tochter
     Christa auf dem Eis tat, hatte er ihr nicht beigebracht. Sie fuhr weite Achten,
     wobei sie die Arme in die Seiten stemmte und sich in die Kurven legte. Sie nahm
     Anlaufund sprang wie wild fünf oder sieben Mal mit angezogenen
     Knien hoch in die Luft. Dabei machte sie bei jedem Sprung eine halbe Drehung und
     fegte mal vorwärts, mal rückwärts über die blanke Fläche. Oder sie kreiselte auf
     einem Bein, die behandschuhten Fäuste hoch in den Winterhimmel gestreckt, dass ihre
     Zöpfe nur so spritzten. Zunächst fragte sich Hinnerk, ob er diese Art des Eislaufens
     wirklich dulden könne. Die Leute guckten, denn auffällig war es ja schon. Doch dann
     glaubte er, im Tuscheln der Leute ihren Neid zu erkennen, und so beschloss er, sich
     über seine Tochter und ihr merkwürdiges Gebaren auf dem Eis zu freuen. Zumal sie
     sonst sehr artig war, sanft und mütterlich und stets darauf bedacht, es gerade
     Hinnerk, ihrem geliebten Vater, angenehm zu machen.

    Meinen Vater lernte sie auf der zugefrorenen Lahn kennen.
     Sie studierten beide in Marburg, Christa Sport und Geschichte, mein Vater Physik.
     Natürlich konnte mein Vater meine Mutter auf dem Eis nicht übersehen. Auf den
     Brücken über dem Fluss sammelten sich bisweilen kleine Gruppen von Menschen an, die
     das auch nicht konnten. Alle blickten hinunter auf die hohe Gestalt, von der man
     nicht sofort sagen konnte, ob sie männlich oder weiblich war. Die Beine in den
     schmalen braunen Hosen waren die eines Jungen, die Schultern auch, die großen Hände
     steckten in gewalkten Fäustlingen und die kurzen braunen Haare unter einer
     Pudelmütze – die Zöpfe hatte Christa noch vor der ersten Vorlesung abgeschnitten.
     Nur die Hüften waren vielleicht eine Spur zu breit für einen Mann, die roten Wangen
     zu glatt, und die Linie von Ohrläppchen zu Unterkiefer und weiter zum Hals hatte
     einen so zarten Schwung, dass mein Vater sich fragte, obman hier
     nun von einer parabolischen oder eher von einer Sinuskurve ausgehen müsse. Und zu
     seiner eigenen Überraschung verspürte er ein Interesse daran, herauszufinden, wie
     und wohin diese Kurve unter dem dicken hellblauen Wollschal weiterverlaufen könnte.

    Mein Vater, Dietrich Berger, sprach die junge Eisläuferin
     zunächst nicht an. Er ging nur jeden Nachmittag auf die Lahn und schaute ab und zu
     mal hin. Damals lebte er noch zu Hause bei seiner Mutter, das jüngste von vier
     Kindern. Da sein älterer Bruder schon ausgezogen und seine Mutter eine Witwe war,
     lastete die Rolle des Herrn im Haus auf seinen Schultern. Er trug sie jedoch tapfer
     und empfand sie nicht als schwer, vielleicht auch, weil er nicht darauf gekommen
     wäre, darüber nachzudenken. Seine zwei Schwestern spotteten, schimpften und lachten
     zwar über ihn, wenn er ihnen sagte, wann sie abends wieder zu Hause sein sollten,
     aber sie waren doch froh, dass er Verantwortung für die Familie übernahm.
    Die Mutter meines Vaters kannte ich kaum. Sie starb, als
     ich noch ein sehr kleines Kind war, und ich erinnerte mich nur an ihren festen
     Wollrock, dessen Taftunterrock mit

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