Der Geschmack von Glück (German Edition)
verschwunden war, noch eine Weile mit strampelnden Beinen in der Luft hängen und hoffte, wenn er nur weiterrannte, würde er womöglich nicht abstürzen.
Es war einsamer, als er sich je hatte vorstellen können. Sicher, es gab Agenten, Manager und Regisseure, Schauspielkollegen, Tutoren und Kostümbildner, Pressebeauftragte, Friseure und Imageberater. Doch von denen kam ihm keiner ganz real vor, und wenn die Kameras ausgingen, verblassten sie alle wie wankelmütige Gespenster. Er versuchte Kontakt mit seinen Schulfreunden zu halten, doch in der fremden, unbekannten Filmwelt schob sich etwas zwischen sie, und seine Freunde wussten nicht mehr, wie sie sich in seiner Gegenwart verhalten sollten. Er hatte sich zu weit von ihrer Welt aus Schularbeiten, Fußballtraining und Hausarrest entfernt, und als er sein Haus nicht mehr zum Feiern zur Verfügung stellte, gab es kaum noch Grund, sich zu treffen.
Genauso war es mit den neuen Leuten, die er auf Partys und sonstigen Veranstaltungen traf, und mit den Mädchen, die er praktisch überall kennenlernte. Vorher war er der Typ gewesen, mit dem alle abhängen wollten, weil er witzig war, weil er sich amüsieren konnte und weil er grundsätzlich ein ganz anständiger Kerl war. Jetzt wollten alle um ihn sein, weil er gut aussah, berühmt war und ein schickes Haus hatte oder weil sie das alles auch haben wollten und dachten, er könnte ihnen vielleicht nützlich sein.
Wenn er also nicht arbeitete, verkroch er sich und las die Drehbücher, die ihm sein Agent schickte, versuchte seine Tage irgendwie zu füllen. Gelegentlich ging er auf Partys, meist um einen angesagten neuen Regisseur oder Autor zu treffen, von dem er Gutes gehört hatte, und wenn die unvermeidlichen Fotografen auftauchten, lächelte er grimmig und verschwand, sobald er konnte. Er las mehr Bücher als in seiner gesamten Schulzeit. Er bestellte mehr Pizza, als er je für möglich gehalten hätte. Er spielte mit verzweifelter Hingabe Computerspiele. Er holte sich ein Schwein ins Haus und verbrachte die meisten Tage mit ihm am Pool.
Dann fand eines Tages eine seiner Mails den Weg zu ihr.
Und auf einmal begriff er die Macht des Netzes. Die Anonymität hatte etwas Berauschendes. Plötzlich war er ein unbeschriebenes Blatt. Er war für sie ebenso ein Geheimnis wie sie für ihn, nicht mehr Graham Larkin, sondern bloß GDL824. Und GDL konnte alles Mögliche sein, hundert verschiedene Sorten Siebzehnjähriger: einer, der nur für Football lebte, oder einer, der Preise bei Schachturnieren gewann, einer, der auf dem Schleichweg hinter der Schule rauchte, oder einer, der so genial war, dass er schon im dritten Semester Medizin studierte. Oder einer, der Schmetterlinge sammelte oder Briefmarken oder Freundinnen. Er konnte Fan von Rockstars sein oder von Tennissternchen oder von den unzähligen Sternen am Firmament. Er konnte sogar Graham-Larkin-Fan sein.
Er konnte alle und jeder sein.
Wochenlang kostete es ihn große Mühe, sich im Studio in L.A. auf die Vorproduktion seines aktuellen Films zu konzentrieren – eine Liebesgeschichte, um seine sensible Seite zu zeigen –, denn all seine Gedanken waren an der Ostküste. Seit sie zum ersten Mal erwähnt hatte, sie sei aus Maine, las Graham alles, was er über den Bundesstaat in Erfahrung bringen konnte, so, als wäre er ein exotisches Reiseziel.
Wusstest du, dass die wilde Heidelbeere die Staatsbeere von Maine ist? , schrieb er ihr eines Abends. Und noch wichtiger: dass die offizielle Süßigkeit von Maine die »Whoopie Pie« ist?
Ich weiß nicht mal, was eine Whoopie Pie ist , hatte sie geantwortet. Dabei arbeite ich in einem Süßigkeitenladen. Das denkst du dir nur aus.
Gar nicht , schrieb er zurück. Ich bin sicher, dass alle Städte Maines mit Whoopie Pies gepflastert sind.
Henley nicht , gab sie zurück, und wie einem Bergarbeiter, der im dunklen Stollen herumtastet, erschien ihm plötzlich ein winziger Lichtstrahl.
Ein paar Tage zuvor hatte sich herausgestellt, dass das Küstenstädtchen in North Carolina, wo sie zum Sommeranfang drehen sollten, von einer Zikadenplage heimgesucht wurde. Der Regisseur war außer sich vor Wut, dass dieser Insekteneinfall übersehen worden war, der doch zuverlässig wie ein Uhrwerk alle sieben Jahre eintrat, Graham jedoch war im Stillen erfreut.
Er hatte vorgeschlagen, die Dreharbeiten nach Henley zu verlegen, und darauf hingewiesen, dass es dort alles gäbe, was sie suchten: niedliche kleine Läden, einen malerischen Hafen,
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