Der Geschmack von Glück (German Edition)
Blut.
Vielleicht hatte sie ihn vor vielen Jahren nicht verlassen, weil sie ihn hasste, sondern weil sie ihn liebte.
Nach einer Weile nickte Ellie. »Graham hat mich begleitet.« Die Sache mit dem Boot ließ sie erst mal weg. »Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich wollte ihn einfach sehen.«
Moms Gesicht war immer noch seltsam ausdruckslos. »Und hast du?«
Wieder nickte Ellie. »Er war im Ort und hat für den Wahlkampf Hände geschüttelt.« Dann brach zu ihrer eigenen Überraschung ihre Stimme. »Er hatte keine Ahnung, wer ich bin. Er hat mich nicht erkannt.«
»Oh, El!« Ihre Mutter rückte näher, setzte sich neben sie. »Das wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass du ihn treffen willst.«
»Ich auch nicht«, sagte Ellie, der plötzlich hundeelend war. »Nicht so richtig. Es war auch albern, anzunehmen, er könnte mich erkennen.«
Auf der anderen Seite des Rasens beendete das Blasorchester sein Stück mit schmetterndem Crescendo, dann wurde es still. In gespannter Erwartung gingen die Leute zu ihren Picknickdecken. Fast alle hier kamen schon so lange zu diesem Fest, dass sie genau wussten, wenn der Himmel dunkelblau wurde und die Kapelle ihr letztes Stück beendete, dann ging bald das Feuerwerk los.
»Weißt du, wie ich damals mit deinem Vater ins Gespräch kam?«, fragte Mom, und Ellie nickte.
»Du warst seine Kellnerin.«
»Genau, ich nahm seine Bestellung auf, und das war’s. Aber in dieser einen Woche hatte es wirklich jeden Tag geregnet, er kam jeden Morgen mit tropfendem Regenmantel und klatschnassem Haar herein und zwängte sich in die Sitzbank, die für seine langen Beine immer viel zu eng aussah. Und dann hörte es eines Morgens ganz plötzlich einfach auf.«
»Zu regnen?«
Mom nickte. »Als ich seine Bestellung aufnahm, habe ich aus dem Fenster geschaut und so was gesagt wie, das sei ja ein Wunder. Und weißt du, was er darauf gesagt hat?«
Ellie schüttelte den Kopf.
»Er hat gesagt: ›Hier wird es keine Wunder geben.‹ Ich weiß noch, wir haben uns beide umgeschaut, und ich habe gedacht, er hat Recht. Es war eben bloß so ein Diner und ein ziemlich schäbiger noch dazu. Zu lange gekochte Eier und Wasserflecken und aufgerissene Plastikpolster und Kuchen von vorgestern. Aber dann habe ich ihn gefragt, wie er das meinte, und er hat mir die Geschichte einer französischen Stadt im 17. Jahrhundert erzählt, wo angeblich Wunder geschahen. Als zu viele Leute hinpilgerten, stellten die Behörden ein Schild auf: Hier wird es keine Wunder geben. «
Über ihren Köpfen sauste die erste Rakete am Hoteldach vorbei in den Nachthimmel – ein winziger Lichtpunkt, der kleiner wurde, je höher er stieg, und den Ellie irgendwann ganz aus dem Blick verlor. Doch einen Moment später explodierte er zischend, und golden leuchtende Halbkreise trudelten wieder dem Boden entgegen.
»Aber das Tolle ist ja«, sagte Mom leise, »es würde sehr wohl ein Wunder geben. Wir wussten es da bloß noch nicht.« Sie lächelte. »Das Wunder warst du.«
»Mom«, sagte Ellie, doch Mom schnitt ihr kopfschüttelnd das Wort ab.
»Er hat dich vielleicht heute nicht erkannt, aber er liebt dich. Das habe ich in seinen Augen gesehen, als du noch klein warst. Er wollte immer eine Tochter.« Sie drückte Ellies Hand. »Sich aus unserem Leben herauszuhalten, ist ihm auch nicht leichtgefallen, musst du wissen. Es war meine Entscheidung – ich habe den Kontakt abgebrochen. Er war bereit, mit der Sache an die Öffentlichkeit zu gehen, obwohl es ihn womöglich die Karriere gekostet hätte. Aber ich habe es nicht zugelassen.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich für uns etwas anderes wollte«, sagte sie. »Er hätte mit Frau und Kindern in Delaware gesessen und uns Schecks geschickt, und wir hätten in Washington die Presse am Hals gehabt. Ich wollte, dass du ein normales, richtiges Leben hast. So was wie hier.« Sie deutete wieder mit dem Arm in Richtung all ihrer Freunde und Nachbarn, und Ellie ging das Herz auf angesichts des Städtchens, das sie so liebte und das sie nie gegen irgendetwas anderes eintauschen würde, schon gar nicht gegen das Leben einer Senatorentochter.
Dauernd hatte sie gegrübelt, ob nicht alles besser wäre, wenn sie zu seiner Familie gehörte, doch in Wirklichkeit war es umgekehrt, das begriff sie jetzt. Nicht sie hatte etwas verpasst. Vielleicht hatte ihnen das Geld fürs Ferienlager oder für Europareisen oder für ein neues Auto gefehlt. Aber er hatte nie den Sonnenuntergang in
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