Der Geschmack von Glück (German Edition)
weißt, dass darüber berichtet wurde, nicht wahr?«
Ellie konnte sie nicht ansehen, aber sie nickte und schaute weiter auf ihr Gebäck, auf die verschmierte Ecke der kleinen Flagge. Sie wusste nicht recht, was sie antworten sollte, aber eine Flut von Worten stieg in ihr hoch, und es war zu anstrengend, sie zurückzuhalten.
»Es tut mir leid, Mom«, flüsterte sie, und dann hatte sie einen Kloß im Hals, und der Rest klang gepresst und erstickt. »Es ist alles meine Schuld. Du hast ja gesagt, genau das würde passieren, aber ich konnte – ich konnte nicht anders. Ich habe ihn gar nicht die ganze Zeit heimlich weiter getroffen. Aber ihn nicht zu sehen, war so schrecklich. Mir war hundeelend. Und dann haben wir uns doch wiedergesehen. Aber für die Sache mit den Fotografen konnte er eigentlich gar nichts. Er hat bloß versucht, sie von mir fernzuhalten, und sie waren widerlich. Genau wie du gesagt hast.«
Jetzt weinte sie fast, vor Erschöpfung und weil sie so ein schlechtes Gewissen hatte. Mom saß ihr gegenüber, hörte ihren Wortschwall und betrachtete sie mit angespannter Miene – ob es Zorn oder Sorge oder etwas ganz anderes war, konnte Ellie nicht sagen. Sie holte zittrig Luft und redete weiter. »Es war schrecklich. Er hatte keine Wahl. Und heute Morgen hatten sie noch nicht rausgefunden, dass ich das Mädchen bei ihm war, und ich dachte, es geht gut, ist es aber offensichtlich nicht, und das tut mir so leid. Ich weiß, es ist alles ein Riesenschlamassel, und wahrscheinlich habe ich alles kaputt gemacht, aber das wollte ich nicht, und es tut mir so, so leid.«
Einen Augenblick kam überhaupt keine Reaktion. Mom starrte Ellie einfach nur über die nicht angerührten Teller hinweg an. Dann schüttelte sie den Kopf, wobei sich einige Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz lösten, und beugte sich vor. »Du hast überhaupt nichts kaputt gemacht«, sagte sie leise, und Ellie wollte sofort protestieren, aber Mom schüttelte erneut den Kopf. »Natürlich wäre es mir lieber, die Sache wäre nicht ans Licht gekommen. Das ist ein Kapitel meines Lebens, auf das ich nicht besonders stolz bin. Als ich Washington verließ – als ich deinen Vater verließ –, hatte ich das Gefühl wegzulaufen, und das ist nie gut.«
Sie schwieg nachdenklich. Der Himmel war ein paar Nuancen dunkler geworden, und die gelben Straßenlampen am Rand des Grüns gingen hinter ihr an.
»Aber was ist dabei herausgekommen?«, sagte Mom und schwenkte den Arm. »Wir sind hier gelandet. Und was noch viel wichtiger ist: Du bist dabei herausgekommen. Wie kann es mir da leidtun?«
Ellie biss sich auf die Lippe. Den halben Tag hatte sie ihren Vater gesucht, wie Ahab den weißen Wal. Doch jetzt wurde ihr klar, das war die falsche Suche gewesen – sie war doch eher Dorothy. Sie hatte einfach nur das hier gesucht: ihr Zuhause.
Sie schlug die Augen nieder und überlegte, ob sie zugeben sollte, wo sie heute gewesen war; sie konnte leicht so tun, als wäre es nie geschehen, die Erinnerung an ihren Vater völlig ausblenden. Auch jetzt tat es noch weh, daran zurückzudenken, und darüber reden – es genauer zu betrachten, zu analysieren, darüber vielleicht sogar zu streiten – war das Letzte, was sie wollte.
Aber es hatte schon genug Lügen gegeben – Graham, Harvard, das Boot –, und das hier war zu groß, um es zu verstecken, viel zu bedeutsam, um darüber zu schweigen. Sie betrachtete das unbeachtete Essen.
»Ich habe ihn heute gesehen«, sagte sie leise. Sie wollte erklären, wen sie mit ihn meinte, aber Moms Miene zeigte deutlich, das war nicht nötig. Sie saß Ellie im Schneidersitz gegenüber, einen Teller mit einem Maiskolben auf dem Schoß, und der rollte jetzt auf die Decke, als ihr ganzer Körper starr wurde. Sie machte keine Anstalten, ihn aufzuheben, also tat Ellie es, wischte die Fussel der Decke von den gelben Körnern und legte ihn mit entschuldigendem Achselzucken wieder auf den Teller.
»Du hast ihn gesehen?«, wiederholte Mom mit starrem Blick.
»Ich bin heute nämlich da gewesen.«
»In Kennebunkport?«
Verblüfft fuhr Ellie zurück. Nie wäre sie darauf gekommen, dass Mom womöglich genau wie sie verfolgte, wo er sich aufhielt. Sie hatte immer angenommen, sie sprachen nicht über ihn, weil Mom es nicht wollte. Zum ersten Mal ging ihr auf, dass sie sich womöglich irrte. Vielleicht wollte sie eigentlich über ihn reden; vielleicht sollte das Schweigen nur die Erinnerungen stoppen, so wie ein Verband das
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