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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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einen Mund und Ohren; er hatte das richtige Alter; er lebte in guten Verhältnissen; er hatte einen edlen Ausdruck in den Augen, so wie es sich Mrs. Harris vorgestellt hatte, und jetzt hatte er ein reizend aussehendes Mädchen geheiratet, das genau die richtige Mutter für den kleinen Henry sein würde. Beliebt, schrieb die Zeitung, aber Mrs. Harris stellte außerdem fest, daß sie etwas Gutes und Offnes in ihrem Gesicht und schöne Augen hatte. Doch der Gipfel von allem — und das machte sie ganz sicher — war der Name des Vaters von Mr. Brown — Henry Brown: natürlich hatte man das Enkelkind nach ihm genannt.
    Mrs. Harris hörte mit dem Tanzen auf, betrachtete noch einmal das kostbare Foto und sagte: «George Brown, Sie werden Ihr Kind zurückbekommen», und in diesem Augenblick kam ihr zum erstenmal der Gedanke, den kleinen Henry den Gussets zu rauben und ihn sofort zu seinem Vater nach Amerika zu bringen. Sie hatte zwar nicht seine Adresse, aber es würde nicht schwer sein, ihn ausfindig zu machen, wenn sie erst mit dem kleinen Henry nach Kenosha, Wisconsin, kam. Dies war ein Zeichen des Himmels, das ihr zu verstehen gab, was ihre Pflicht war und was sie zu tun hatte, und Mrs. Harris kannte kein Zeichen des Himmels, das sie sich nicht, solange sie denken konnte, mehr oder weniger richtig gedeutet hatte.
    Der kleine Henry war acht Jahre alt, aber mit den Erfahrungen, die er in dieser rauhen, unglücklichen Welt gemacht hatte, hätte er achtzig sein können. In seinem kurzen Leben hatte er alle Tricks der Verfolgten gelernt — lügen, stehlen, sich verstecken—, kurz, wie man überleben kann. In dieser Londoner Steinwüste auf sich selbst gestellt, hatte er frühzeitig die Verstandesschärfe und die Schläue erworben, die man braucht, um den Bösen zu überlisten.
    Trotzdem hatte er sich einen kindlichen Charme und eine angeborene Güte bewahrt. Er betrog niemals einen Freund oder tat dem, der gut zu ihm war, etwas Böses. So auch zum Beispiel nicht den beiden verwitweten Putzfrauen, Mrs. Ada Harris und Mrs. Violet Butterfield, in deren Küche er im Augenblick verborgen gehalten wurde, um an einer der erregendsten und berauschendsten Verschwörungen teilzunehmen. Er hockte dort und sah fast wie ein Zwerg aus, tat sich an Tee und Hörnchen so gütlich, daß er beinahe platzte — denn unter vielem anderen hatte das Leben ihn gelehrt, daß, wenn sich einem etwas Eßbares bot, das man nur zu nehmen brauchte, man so schnell wie möglich und soviel wie möglich davon verspeisen mußte—, während Mrs. Harris ihm die Einzelheiten des Komplotts auseinandersetzte.
    Eine von Henrys guten Eigenschaften war seine Verschwiegenheit. Unter anderem hatte er gelernt, seinen Mund stets geschlossen zu halten. Er war dagegen mit seinen großen dunklen, traurigen Augen ziemlich beredt. Augen, die so wissend waren, wie es die eines kleinen Jungen seines Alters nicht sein sollten, und denen nichts entging, was um ihn herum geschah.
    Da er dünn und im Wachstum ein wenig zurückgeblieben war, wirkte sein Kopf zu groß und alt: Es war der Kopf eines Erwachsenen, mit einem Schopf dunklen Haars über einem blassen und meist schmutzigen Gesicht. Man konnte es ihm nicht hoch genug anrechnen, daß er sich noch ein wenig Jugend und Reinheit bewahrt hatte — die widrigen Umstände hatten ihn weder gemein noch rachsüchtig gemacht.
    Was er auch tat, um sich sein Leben so leicht wie möglich zu machen, all sein Tun wurde von der Notwendigkeit diktiert. Er sprach selten, aber wenn er es tat, hatte das, was er sagte, Hand und Fuß.
    Und als Mrs. Harris ihm den faszinierendsten Plan, der je ersonnen worden war, um einen kleinen Jungen aus einer gräßlichen Tyrannei zu befreien, und ihm drei reichliche Mahlzeiten täglich garantierte, noch genauer auseinandersetzte, saß er stumm da, hatte sich den Mund mit Hörnchen vollgestopft, aber er nickte, und seine klugen Augen verrieten, daß er alles verstand, was Mrs. Harris ihm Punkt für Punkt aufzählte, nämlich was er wann, wo und unter welchen Umständen zu tun habe. Aus diesen gleichen Augen sprach auch eine beträchtliche Verehrung für sie.
    Er hatte es zwar gern, hin und wieder an Mrs. Butterfields wogenden Busen gedrückt und zärtlich gewiegt zu werden, aber allzuviel hatte er für solche Liebkosungen nicht übrig oder wollte es sich zumindest nicht eingestehen. Dagegen waren er und Mrs. Harris verwandte Seelen. Sie spürten einer im anderen den unabhängigen Geist, die Freude am

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