Der geschmuggelte Henry
Abenteuer, das mutige Herz, die verlangende Seele und die Fähigkeit, für das einzustehen, für das man einstehen mußte, und dann weiterzumachen.
Mrs. Harris machte nicht viel Theater mit ihm, aber sie sprach zu ihm wie zu ihresgleichen, denn sie waren einander gleich in dieser grimmigen Welt, in der man hart und unermüdlich arbeiten muß, um sich zu ernähren und zu kleiden, wo das Leben ein einziger Kampf ist und die helfenden Hände die eigenen sind.
In so vielem waren sie sich ähnlich. Niemand hatte zum Beispiel je gehört, daß der kleine Henry sich beklagte. Was ihm auch geschah — so war es nun einmal, und ebenso hatte niemand je Mrs. Harris klagen gehört. Sie war mit dreißig Jahren Witwe geworden, hatte ihre Tochter aufgezogen und verheiratet und sich und ihre Selbstachtung erhalten — und das alles mit ihrer Hände Arbeit, auf den Knien liegend und schrubbend oder über einen Mop, ein Staubtuch oder einen Spülstein voll schmutzigen Geschirrs gebeugt. Sie wäre die letzte gewesen, die sich für eine Heldin gehalten hätte, dennoch besaß sie einen gewissen Heroismus, genau wie der kleine Henry. Auch darin war er ihr ähnlich, daß er immer sofort begriff, worauf es ankam. Während Mrs. Harris Mrs. Butterfield stets alles lang und breit erklären mußte, was sie meist mit großer Geduld tat, verstand der kleine Henry sie sofort und nickte schon zustimmend, noch ehe Mrs. Harris die Hälfte von dem gesagt hatte, was sie sagen wollte.
Als Mrs. Harris jetzt damit fertig war, ihren Plan noch einmal Punkt für Punkt durchzugehen, warf Mrs. Butterfield, die das alles zum erstenmal hörte und für blanken Unsinn hielt, sich die Schürze über, den Kopf und begann auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen und zu stöhnen.
«Nanu, meine Liebe, was ist?» sagte Mrs. Harris. «Bist du krank?»
«Krank», rief Mrs. Butterfield. «Man möchte es glauben! Wie man es auch bezeichnen mag, was du da tun willst, es ist ein schweres Verbrechen. Und es wird auch nicht klappen!»
Der kleine Henry stopfte sich einen letzten Bissen in den Mund, spülte ihn mit einem Schluck Tee hinunter, wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab, und während er seine großen Augen auf die zitternde Mrs. Butterfield richtete, sagte er schlicht: «Und warum nicht?»
Mrs. Harris warf den Kopf zurück und brach in ein lautes Gelächter aus. «Ach, Henry», sagte sie, «du bist ein Mann nach meinem Herzen!»
5
Wie alle aus der Notwendigkeit geborenen genialen Pläne war Mrs. Harris’ Plan, den kleinen Henry in Southampton an Bord der «Ville de Paris» zu schmuggeln, wunderbar einfach, und das ganze Getriebe bei der Einschiffung, wie es ihr Mrs. Schreiber ausführlich erklärt hatte, kam ihm prächtig zustatten.
Da die Schreibers erster Klasse und die beiden Frauen Touristenklasse fuhren, konnten sie nicht zusammen reisen, und Mr. Schreiber hatte ihr genau gesagt, was sie zu tun hätten — sie mußten mit dem Schiffszug vom Waterloo-Bahnhof abfahren, kamen dann zum Pier von Southampton, wo sie, nachdem sie Zoll- und Paßkontrolle passiert hatten, das kleine Boot bestiegen, das sie zu dem Dampfer brachte. Dort würde man sie in ihre Kabine führen, und danach würde das Schiff in See stechen.
Bei diesen Instruktionen mußte Mrs. Harris an etwas denken, das sie auf dem Waterloo-Bahnhof erlebt hatte, als sie dort einmal in einen Vorortzug steigen wollte. Vor einer der Sperren hatte es einen kleinen Aufruhr gegeben: Die Leute hatten sich gedrängt und gestoßen, Kinder hatten geschrien und so weiter, als sie sich nach dem Grund dieses Tumults erkundigte, hatte man ihr gesagt, es habe nichts weiter zu bedeuten: es handle sich um die Abfahrt des Schiffszuges auf dem Höhepunkt der Saison. Als Mrs. Harris ihren Plan Mrs. Butterfield darlegte, überbot sich diese ständige Unglücksprophetin in Zittern, Jammern, Klagen, Die-Hände-Zusammenschlagen und Den-Himmel-zum-Zeugen-Anrufen und stöhnte, das alles könne nur dazu führen, daß sie den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen würde, und sie, Mrs. Violet Butterfield, wolle nichts damit zu tun haben. Sie war zu dieser Wahnsinnsreise über den Ozean in ein Land bereit, wo der Tod an jeder Ecke lauerte, aber sie wollte das Unglück nicht dadurch noch größer machen, daß sie die Reise mit einem Kinderraub und Kinderschmuggel begann.
Mrs. Harris, die, wenn sie erst einen Plan gefaßt hatte, der ihr durchführbar schien, sich nicht davon abbringen ließ, sagte: «Aber, aber,
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