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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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Violet, ereifre dich doch nicht so! Wir werden schon über all die Klippen hinwegkommen.» Und mit bemerkenswerter Geduld und Beharrlichkeit gelang es ihr dann auch, alle Einwände ihrer Freundin zu zerschlagen.
    Ihr Plan beruhte auf Erinnerungen an Fahrten, die sie mit ihren Eltern in ihrer Kindheit nach Clacton-on-Sea gemacht hatte, und die Dampferausflüge nach Margate, ein Luxus, den sie sich gelegentlich leisteten. Da sie arm waren, konnten die Eltern nur den Preis für zwei und nicht für drei Fahrkarten bezahlen. Wenn es Zeit wurde, durch die Sperre zu gehen und die Fahrkarten vorzuzeigen, mußte die kleine Ada, so hatte man es ihr beigebracht, sich von ihren Eltern trennen und sich einer großen Familie mit fünf oder mehr Kindern anschließen, bis sie durch die Sperre hindurch waren. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß in dem Sonntagsgedränge der geplagte Mann an der Sperre nicht zu sehen vermochte, ob fünf oder sechs Kinder an ihm vorübergingen, und der ebenso geplagte Familienvater nicht merkte, daß er plötzlich noch ein kleines Mädchen mehr hatte. Sobald sie auf dem Bahnsteig waren und der Pater familias, dem vielleicht auffiel, daß es mit seiner Brut nicht ganz stimmte, die Häupter seiner Lieben zählte, trennte sich die kleine Ada wieder von dieser Gruppe und kehrte zu ihren Eltern zurück.
    Es gab aber auch noch einen anderen Trick — falls nämlich keine kinderreiche Familie aufkreuzte. Vater und Mutter gingen mit ihren Fahrkarten durch die Sperre, und ein paar Sekunden später begann die kleine Ada laut zu schreien: «Ich bin verloren! Ich bin verloren! Ich habe meine Mummi verloren!» Wenn diese Vorstellung ihren Höhepunkt erreicht hatte und sie ihren vor Angst schon halb wahnsinnigen Eltern zurückgebracht wurde, dachte niemand daran, eine Fahrkarte von ihr zu verlangen. Der Ausflug ging dann glücklich vonstatten.
    Mrs. Butterfield, die in ihrer Jugend Ähnliches erlebt hatte, mußte zugeben, daß keiner dieser Tricks jemals mißlungen war. Aber mit ihren Unglücksprophezeiungen kam sie auch gegen Mrs. Harris’ Überlegenheit als Weltreisende nicht an.
    «Vergiß nicht, Liebe», sagte Mrs. Harris, «es ist ein französisches Schiff. Bei denen geht alles drunter und drüber. Sie müssen bei allem schreien und die Arme schwenken. Du wirst es sehen.»
    Mrs. Butterfield machte noch einen weiteren Versuch. «Aber wenn er in unserer Kabine ist, werden sie ihn dann nicht finden?» stammelte sie mit zitterndem Doppelkinn.
    Mrs. Harris, die jetzt leicht ungeduldig wurde, brummte: «Lieber Himmel, streng mal deinen Verstand an! Wir haben doch ein Badezimmer!»
    Und das stimmte auch. Mrs. Schreiber war so überglücklich gewesen, daß sie zwei dienstbare Geister mitnehmen konnte, die sie gern hatte und denen sie vertraute, daß sie ihren Mann dazu überredet hatte, für sie eine der besten verfügbaren Kabinen in der Touristenklasse zu buchen, eine der wenigen, die mit einem Badezimmer verbunden und eigentlich für größere Familien bestimmt waren. Man hatte Mrs. Harris die Räumlichkeiten auf einem Plan des Schiffes gezeigt, und obwohl sie nicht genau wußte, welche Rolle das Badezimmer spielen würde, wenn sie an Bord des Schiffes waren, so schien es ihr doch als Zufluchtsort, in den man sich, wenn Gefahr drohte, vorübergehend zurückziehen konnte, von großer Bedeutung zu sein.

6

    Wie man sich vorstellen kann, war die Abreise von Mrs. Harris und Mrs. Butterfield in die Vereinigten Staaten ein Ereignis, das die kleine Straße in Battersea, als Willis Gardens bekannt, bis in ihre römischen Grundfesten erschütterte, und alle Freunde und Nachbarn der beiden mitsamt den unausstehlichen Gussets versammelten sich, um ihnen Lebewohl zu sagen. Die Erregung, die die Ankunft eines Taxis vor Nr. 5 und das Verladen alter Koffer und Taschen auf dem Verdeck und neben dem Sitz des Chauffeurs bewirkte, war so groß, daß niemand sich über die Abwesenheit des kleinen Henry Brown Gedanken machte oder sie auch nur bemerkte.
    Wie alle, die nur selten verreisen, hatten die beiden Frauen viel mehr mitgenommen, als sie je brauchen würden, darunter Fotos, Nippes und allerlei ihnen teuren Krimskrams aus ihren Wohnungen, und so war auch das Innere des Taxis mit Gepäck vollgestopft und schien für die rundliche Mrs. Butterfield und die zierliche Mrs. Harris kaum Raum zu lassen.
    Als der Taxifahrer erfuhr, daß sie wirklich und wahrhaftig nach Amerika reisten, war er tief beeindruckt, wurde hilfreicher und

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