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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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herübergeschlichen und stellte sich wieder neben Mrs. Harris. «Das hast du fein gemacht, mein Liebling», lobte sie ihn. «Du bist ein kluges Kind. Du wirst es schaffen.»
    Während sie das sagte, nahmen ihre strahlenden kleinen frechen Augen die um sie herumstehenden Menschen aufs Korn, Reisende ebenso wie deren Freunde, die gekommen waren, um sie abfahren zu sehen. Beide ließen sich leicht voneinander unterscheiden, denn die Reisenden sahen nervös und sorgenvoll aus, und die ihnen das Geleit Gebenden machten heitere und unbekümmerte Gesichter.
    Mehrere Abteile weiter stand vor einer offenen Wagentür eine große amerikanische Familie, Vater, Mutter und eine riesige Zahl von Kindern, um die herum sich ein hoher Berg von Handgepäck türmte. Man konnte nicht sagen, ob es fünf oder sechs waren, denn sie liefen und sprangen um die Gepäckstücke herum und spielten Verstecken, so daß nicht einmal Mrs. Harris sie genau zu zählen vermochte. Nachdem sie sie einen Augenblick lang betrachtet hatte, zog sie den kleinen Henry am Arm, deutete auf die Gruppe, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: «Die da!»
    Der kleine Henry antwortete nicht, sondern nickte nur ernst, und mit seinen traurigen, klugen Augen musterte er die Kinder, um sich ihnen später besser anpassen zu können.
    Es wäre spannender und dramatischer, wenn man berichten könnte, daß Mrs. Harris’ Pläne ins Wanken kamen oder sogar durch das meist übelwollende Schicksal zunichte gemacht wurden. Aber so war es ganz und gar nicht.
    Glatt und ohne jeden Zwischenfall gelangten sie vom Waterloo-Bahnhof nach Southampton, von Southampton auf das kleine Boot und von dem kleinen Boot auf den großen Dampfer, dessen schwarzer Rumpf mit Luken besät war und den ein kremfarbener Oberbau und ein lustig angestrichener Schornstein überragten, die «Ville de Paris». Sobald sich jemand näherte, der auch nur von fern einem Schaffner, Kontrolleur, Paß- oder Zollbeamten ähnelte, wurde der kleine Henry seelenruhig und unauffällig ein zeitweiliges Mitglied der Familie des Professors Albert R. Wagstaff, Lehrer für mittelalterliche Literatur am Bonzana College in Bonzana, Wyoming. Mit ihrem untrüglichen Instinkt war es Mrs. Harris gelungen, für ihre Zwecke einen zerstreuten Professor auszuwählen.
    So wenig sicher Dr. Wagstaff manchmal war, ob seine Familie aus sechs oder sieben Personen bestand, so wenig wußte er auch, wie viele Gepäckstücke er bei sich hatte. Jedesmal, wenn er sie zählte, ergab sich eine andere Zahl, bis seine Frau ärgerlich rief: «Ach, um Gottes willen, hör mit dem Zählen auf, Albert. Entweder sind alle da oder nicht!»
    Da Dr. Wagstaff stets vor seiner Frau eine Heidenangst hatte, erwiderte er: «Ja, Liebste», und hörte sofort mit dem Zählen nicht nur des Gepäcks, sondern auch der Kinder auf, obwohl er immer wieder das Gefühl hatte, es sei plötzlich eines mehr. So war die Aufgabe des kleinen Henry vergleichsweise einfach, und, wie schon gesagt, es ging alles glatt.
    Eine kleine Spannung entstand, als die drei — Mrs. Harris, Mrs. Butterfield und Henry — sicher in der Kabine Nr. A 134 der Touristenklasse geborgen waren, die ziemlich geräumig und recht hübsch eingerichtet war, mit zwei unteren und zwei oberen Betten und einem Wandschrank, und an die sich ein Badezimmer anschloß. Plötzlich hallten nämlich schwere Schritte durch den Flur, und kurz darauf klopfte es laut und kräftig an die Tür.
    Mrs. Butterfields rotes Gesicht wurde rosa, was bei ihr bedeutete, daß sie blaß wurde. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und sank schwitzend und sich fächelnd auf einen Stuhl. «Lieber Gott», stöhnte sie, «jetzt ist alles aus!»
    «Sei still», befahl Mrs. Harris kühl, und dann flüsterte sie dem kleinen Henry zu: «Geh schnell in das hübsche Badezimmer, mein Jungchen, setze dich auf die Toilette und sei still wie eine Maus, während wir mal sehen wollen, wer zwei wehrlose nach Amerika reisende Damen stören will. Du kannst gleich dein Geschäft verrichten, wenn du willst.»
    Als Henry in Sekundenschnelle in dem Badezimmer verschwunden war, öffnete Mrs. Harris die Kabinentür und stand einem schwitzenden und mitgenommen aussehenden Steward in weißer Jacke, deren Kragen aufgeknöpft war, gegenüber. «Entschuldigen Sie die Störung», sagte er. «Ich möchte Ihre Schiffskarten abholen.»
    Mit einem Blick auf Mrs. Butterfield, deren Gesichtsfarbe sich von rosa in krebsrot verwandelt hatte und die einem

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