Der geschmuggelte Henry
Atempause, ehe sie dem Problem ins Gesicht sehen mußte, wie sie den kleinen Henry in der Wohnung Tag und Nacht verstecken sollte, aber zum erstenmal spürte Mrs. Harris den kalten Wind der Entmutigung.
Dennoch gab sie der Verzweiflung nicht nach, sondern blieb heiter und verrichtete munter ihre Arbeit. Unter ihrer Ägide lief der Haushalt der Schreibers wie am Schnürchen. Mrs. Butterfield, die erleichtert war, daß es noch eine Weile dauerte, bis Henry kommen würde, kochte wie ein Engel; weitere Dienstboten wurden engagiert, denen Mrs. Harris ihre eigenen Vorstellungen von der Reinhaltung eines Hauses einbläute; und Mrs. Schreiber, die durch Mrs. Harris’ Anwesenheit neue Zuversicht schöpfte, begann ihre Hemmungen zu verlieren und Dinnerparties und Gesellschaften zu geben, wie man es von jemand in ihres Mannes Stellung erwartete.
Die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sich daraus ergaben, daß Mr. Schreiber eine der größten Film- und Fernsehgesellschaften in Amerika leitete, zwangen die Schreibers, sich um einige wirklich entsetzliche Leute zu kümmern und sie einzuladen, darunter Zeitungskolumnisten, die die Macht hatten, Unternehmen der Unterhaltungsindustrie, in die viele Millionen investiert waren, groß zu machen oder zu vernichten, Rock’n Roll- und Hillbilly-Sänger, korrupte Gewerkschaftsführer, die die Firma schließen konnten, wenn sie nicht richtig geschmiert wurden, verrückte Fernsehregisseure, deren die Nerven strapazierender Beruf sie bis an den Rand des Irrenhauses brachte, morbide und neurotische Autoren, die gehegt und gepflegt werden mußten, damit sie täglich so viel produzierten, daß die Mühlen weiterliefen, und eine Schar männlicher und weiblicher Schauspieler, Stars, Glamourgirls und — boys.
Viele dieser Gesichter waren Mrs. Harris längst vertraut. Sie hatte sie bisher nur vergrößert auf der Filmleinwand oder verkleinert auf dem Fernsehschirm bewundern können und sah sie nun lebendig und zum Berühren dicht vor sich, wie sie sich an Schreibers Büfett drängten, Mrs. Butterfields Roastbeef und Yorkshire Pudding verschlangen und sich von der aus London importierten Ada Harris bedienen ließen.
Nicht alle von ihnen waren so schrecklich, wie man es sich vorstellen mag, aber die wohlerzogenen schienen doch in der Minderheit zu sein.
Mrs. Harris, die in dem schwarzen Kleid und der weißen Schürze, die ihr Mrs. Schreiber gekauft hatte, sehr fein wirkte, spielte bei diesen Gelegenheiten die dritte Serviererin. Sie wechselte die Teller, reichte Sauce, Majonäse und Käsegebäck, während dem für solche Abende engagierten Butler und der ersten Serviererin die bedeutendere Aufgabe oblag, die gefräßigen Schlünde der berühmten Gratisesser mit Nahrung zu füllen.
Wenn man Mrs. Harris außer ihren romantischen Neigungen eine Schwäche nachsagen konnte, so war es ihre Liebe und Bewunderung für die Leute aus der Welt des Theaters, Films und Fernsehens. Sie kaufte und schätzte die Illusionen, die sie ihr für ihr Geld boten.
Ada Harris war eine moralische Frau mit ihrem eigenen strengen Sittenkodex, die auch bei anderen kein ungehöriges Verhalten duldete. Aber auf diese Leute ließ sich der strenge Kodex einfach nicht anwenden. Sie wußte, sie lebten in ihrer eigenen Welt und hatten ein Anrecht auf andere Maßstäbe. Darum waren Mrs. Schreibers Freitagabend-Dinnerparties für Mrs. Harris geradezu himmlisch. Gerald Gaylord, Nordamerikas großer Filmstar, am Donnerstagnachmittag auf der Leinwand in der Radio City Music Hall zu sehen, dessen schöner Kopf dort so groß wie ein zweistöckiges Gebäude war, und ihn dann am Freitag darauf aus nächster Nähe betrachten zu können, wie er nacheinander sechs Martinis kippte, war ein Genuß, wie sie ihn sich nie erträumt hätte.
Da war Bobby Toms, der Teenager Rock’n Roller mit dem lockigen Haar und dem süßen Gesicht, und sie schloß die Augen davor, daß er schon am frühen Abend betrunken war und in der Gegenwart von Damen sehr häßliche Worte gebrauchte, Worte, die nur von denen übertroffen wurden, die aus dem zarten Munde von Marcella Morell kamen, die im Film schlichte kleine Mädchen spielte, die aber so schön war, daß selbst die scheußlichsten Worte in ihrem Munde schön klangen, wenigstens für jemanden, der die Film-, Fernseh- und Theaterleute so verehrte wie Mrs. Harris. Dann war da ein Hillbilly-Sänger namens Kentucky Claiborne, der in ungewaschenen Jeans und schwarzer Lederjacke erschien und dessen
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