Der Gesellschaftsvertrag
verborgenen Übel ausgleichen. Die einzelnen sehen das Gute, das sie verwerfen; der Staat will das Gute, das er nicht sieht. Alle bedürfen der Führer in gleicher Weise; erstere muß man zwingen, ihren Willen der Vernunft anzupassen, letzteren muß man zur Erkenntnis dessen bringen, was er will. Dann geht im Gesellschaftskörper aus der allgemeinen Einsicht die Vereinigung des Urteils und des Willens hervor, und das Ergebnis davon ist das genaue Zusammenwirken der einzelnen Teile und schließlich die höchste Kraft des Ganzen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Gesetzgebers.
7. Kapitel
Vom Gesetzgeber
Um die für das Wohl der Völker am besten geeigneten Grundsätze der Gesellschaft aufzufinden, bedürfte es eines höheren Geistes, der alle Leidenschaften der Menschen überschaute und keine derselben empfände; dem jede Beziehung zu unserer Natur fehlte und der trotzdem aus dem Grunde von ihr Kenntnis besäße; dessen Glück von uns unabhängig wäre und der dennoch Neigung hätte, sich mit dem unsrigen zu beschäftigen; der sich endlich im Verlaufe der Zeit einen erst in weiter Ferne hervortretenden Ruhm erwürbe und in einem Jahrhundert arbeiten könnte, um erst in einem andern [Fußnote: Ein Volk wird erst berühmt, wenn seine Gesetzgebung in Verfall zu geraten beginnt. Man weiß nicht, wie viele Jahre bereits Lykurgs Verfassung das Glück der Spartaner ausmachte, ehe von ihnen im übrigen Griechenlande die Rede war.] die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Es bedürfte göttlicher Wesen, um den Menschen Gesetze zu geben.
Dieselbe Schlußfolgerung, die Caligula in bezug auf die Tatsachen machte, stellte Plato in bezug auf das Recht an, um den bürgerlichen oder königlichen Menschen, nach dem er in seinem Buche über die Regierung [Fußnote: Man vergleiche Platos Dialog, der in den lateinischen Übersetzungen die Überschrift Politicus oder Vir civilis trägt. Einige haben ihm auch die Überschrift de regno gegeben.] sucht, zu kennzeichnen. Wenn es auf Wahrheit beruht, daß ein bedeutender Fürst ein seltener Mensch ist, was wird dann erst ein bedeutender Gesetzgeber sein? Der erste braucht nur dem Vorbilde zu folgen, das ihm der andere aufstellen muß. Dieser ist der Mechaniker, der die Maschine erfindet, jener nur der Arbeiter, der sie aufzieht und in Gang erhält. »Bei der Bildung der Gesellschaften«, sagt Montesquieu, »geben die Oberhäupter der Republiken die Verfassung, und nachher macht diese Verfassung die Oberhäupter der Republiken aus.«
Wer den Mut besitzt, einem Volke Einrichtungen zu geben, muß sich imstande fühlen, gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein zu setzen. Kurz, er muß dem Menschen die ihm eigentümlichen Kräfte nehmen, um ihn mit anderen auszustatten, die seiner Natur fremd sind und die er ohne den Beistand anderer nicht zu benutzen versteht. Je mehr diese natürlichen Kräfte erstorben und vernichtet und je größer und dauerhafter die erworbenen sind, desto sicherer und vollkommener ist auch die Verfassung. Das heißt, wenn jeder Bürger nur durch alle anderen etwas ist und vermag, und wenn die erlangte Kraft des Ganzen der Summe der natürlichen Kräfte aller Individuen gleich ist oder sie übertrifft, erst dann kann man sagen, daß sich die Gesetzgebung auf dem höchsten Punkt der Vollkommenheit befindet, den sie zu erreichen imstande ist.
Der Gesetzgeber ist in jeder Beziehung ein außerordentlicher Mann im Staate. Wenn er es schon durch seinen Geist sein muß, so ist er es nicht weniger durch sein Amt. Es ist kein obrigkeitliches und auch kein mit der Oberherrlichkeit zusammenhängendes. Dieses Amt, das das Gemeinwesen organisiert, ist selbst kein Bestandteil der Verfassung. Es ist eine besondere und erhabenere Tätigkeit, die mit der menschlichen Herrschaft nichts gemein hat; denn wenn der Beherrscher der Menschen nicht zugleich der der Gesetze sein darf, so darf der Beherrscher der Gesetze ebensowenig der der Menschen sein, sonst würden diese Gesetze als Werkzeuge seiner Leidenschaften oft nur seine Ungerechtigkeiten fortpflanzen;
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