Der gestohlene Abend
aktuellem Anlass möchte ich jedoch eine kleine Parenthese machen, wenn Sie gestatten.« David machte über die Zuhörer hinweg mit der Hand ein Zeichen. Die Bühnenbeleuchtung erlosch, der Lichtstrahl eines Projektors ließ die Leinwand weiß aufleuchten. Im nächsten Augenblick erschienen dort die großformatige Abbildung des Titelkupfers und das Widmungsblatt des Sonettzyklus.
»Ich werde nicht über die Sonette, sondern über die merkwürdige Widmung sprechen, die ihnen vorausgeht.« Ich schaute zu Janine und bemerkte, dass Marian sich zu ihrem Mann hinüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Der zuckte mit den Schultern.
»Sie kennen natürlich alle diese Widmung aus der Quarto-Ausgabe von 1609«, fuhr David fort.
»Fast vierhundert Jahre später biegen sich die Regale unter zahllosen Schriften, die sich mit dem Rätsel um die Identität von Master W.H. befassen. Etwa drei Dutzend Kandidaten sind bis heute identifiziert und es steht zu erwarten, dass, wie bei dieser Art literarischer Ostereiersuche üblich, bald noch weitere dazukommen werden.«
Während David die Reihe der möglichen Kandidaten Revue passieren ließ, übersetzte ich mir noch einmal die an die Wand projizierte Widmung:
Dem alleinigen Schöpfer der
nachfolgenden Sonette
Master W.H. alles Glück
und jene Ewigkeit
versprochen
von
unserem unsterblichen Dichter
wünscht
der wohlmeinende
Unternehmer bei
der Herausgabe
T.T.
Es war schon seltsam, dass Thomas Thorpe einen gewissen W.H. als Schöpfer der Gedichte nannte. Wenn Shakespeare gar nicht der Autor dieser Sonette war, warum prangte dann Shakespeares Name dick und fett auf dem Titelkupfer? Wenn fast vierhundert Jahre Forschung an diesem Problem gescheitert waren, was würde David dann wohl heute darüber zu sagen haben? Oder würde er gleich mit der Operation beginnen, die Gerda mir vorhin beschrieben hatte?
»...behauptet, es handle sich um William Herbert, den dritten Earl of Pembroke. Noch subtiler ist die Annahme, hinter W.H. verberge sich Henry Wriothesley, der dritte Earl of Southampton, wobei die Initialen bewusst vertauscht worden sein sollen, aus Gründen, die man uns leider schuldig bleibt. Weitere Kandidaten auf dieser schier endlosen Liste sind William Hart, ein angeblicher Geliebter des vielleicht, ach ja, natürlich: homosexuellen Dichters, außerdem William Hughes, William Hathaway, William Hatcliffe und William Harrison. Eine noch kühnere Theorie besagt, W.H. stehe für nichts anderes als William Himself, womit wir das erste Widmungsblatt der Literaturgeschichte vor uns hätten, in dem sich ein Verleger für seinen Autor dessen eigene Unsterblichkeit wünscht. Eine andere Lesart will uns glauben machen, das Kürzel W.H. als begetter der Sonette bezeichne gar nicht ihren Autor oder Schöpfer, sondern denjenigen, der das Manuskript besorgt und dem Herausgeber zur Verfügung gestellt hat, also einen fleißigen Literaturagenten der Shakespearezeit. In diese Gruppe fallen Namen wie William Hervey, der jüngere William Hart und ein gewisser William Hall. Sie sehen also: wegen Master W.H. ist mehr Tinte geflossen als wegen irgendeiner anderen Problematik der Quarto-Ausgabe.«
Davids Ton war von Beginn an ein wenig ironisch gewesen. Die literarische Ostereiersuche hatte ihm die ersten, noch unterdrückten Lacher eingebracht. Der ach ja, natürlich, homosexuelle Dichter war mit einem hämischen Brummen Winfrieds neben mir belohnt worden. Der letzte Seitenhieb, dass Shakespeareforscher angesichts des W.-H.-Mysteriums generell die Tinte nicht halten könnten, führte nun zu allgemeiner Erheiterung. In der ersten Reihe schien man das allerdings nicht so witzig zu finden. Das fand ich verständlich, denn zumindest Marian hatte ja über die Geschlechterfrage in den Sonetten geschrieben. Überhaupt saßen Jeffrey Holcomb, Marvin Krueger und vor allem Marian für meinen Geschmack recht steif auf ihren Stühlen. Wechselten sie sogar erstaunte Blicke oder bildete ich mir das ein? Janine schaute mehrmals sichtlich irritiert zwischen Marian und David hin und her. Der aber sprach ruhig weiter:
»Die Vertreter dieser unterschiedlichen Theorien haben sich gegenseitig derart gründlich widerlegt, dass uns diese Arbeit glücklicherweise bereits abgenommen ist. Lässt man die abstrusesten Hypothesen einmal beiseite, bleiben eigentlich nur wenige Fakten übrig: W.H. wird als der Schöpfer, Autor, Erzeuger oder was immer ein begetter nun sein soll, der nachfolgenden Sonette
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