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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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trug wie üblich Cowboystiefel und Theo seinen Dufflecoat. Schon hier draußen herrschte eine erwartungsvolle Stimmung. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich aus einem ganz anderen Grund nervös war? Als wir den Vortragssaal betreten hatten und ich David unten in der ersten Reihe sitzen sah, wurde mir erst recht unwohl. Janine saß neben ihm. Sie unterhielten sich leise. David trug einen dunklen Anzug. Das Lederband um seine Stirn hatte er abgelegt und seine langen Haare stattdessen zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was in Verbindung mit dem Anzug ziemlich gut aussah. Während das Auditorium sich langsam bis auf den letzten Platz füllte, schaute er manchmal hinter sich und begrüßte die Zuhörer, die er kannte. Aufgeregt schien er nicht zu sein. Janine trug einen todschicken, hellgrauen Hosenanzug, von dem ich wusste, dass ihre Mutter ihn ihr aus Paris mitgebracht hatte. Sie drehte sich kein einziges Mal um.
    »Na, was bekommen wir wohl heute zu hören?«, spöttelte Winfried. Ich saß zwischen ihm und Gerda. Theo war links neben Gerda gelandet, weil er unbedingt den Außenplatz direkt am Gang haben wollte. »Ich tippe auf das Textbegehren der dunklen Lady.«
    »Nein«, korrigierte Gerda, »darum hat sich Marian schon gekümmert.«
    »Wo sind nur die Sicherheitsgurte?«, fuhr Winfried fort. »Mir wird immer so schnell schummerig bei Vorträgen von Leuten aus dem INAT.«
    »Wird schon nicht so schlimm werden«, beruhigte ihn Theo. »Aber schaut euch mal seine Freundin an. Da kann einem durchaus schwindelig werden.«
    »Ahh...«, stöhnte Gerda genervt, erwiderte aber sonst nichts. Winfried und Theo grinsten sich zu. Ich blickte zu Boden.
    Während die letzten Zuhörer ihre Plätze auf den dunkelroten, weichen Sesseln einnahmen, ging das Bühnenlicht an. / Als nächstes erlosch feierlich und dezent die Saalbeleuchtung. '■ Ein Mann, den ich nicht kannte, trat ans Pult und hielt eine ; kurze Begrüßungsrede.
    »Wer ist das?«, fragte ich Gerda flüsternd.
    »Jeffrey Holcomb«, flüsterte sie zurück. »Der neue Chef der Abteilung für vergleichende Literaturwissenschaft. Auch aus Yale. So wie Marvin Krueger. Das ist der Grauhaarige zwei Plätze neben Marian. Jeder der drei ist gut und gern eine Viertelmillion wert.« Theo warf uns einen missbilligenden Blick zu, woraufhin Gerda verstummte.
    Ich musterte die Hinterköpfe in der ersten Reihe. Zu Marians Linken saß Janine. Rechts von ihr saß ein mir unbekannter Mann mit rotblonden Haaren, der sich soeben umdrehte und, wie ich fand, etwas grimmig auf das vollgepackte Auditorium schaute.
    »Wer ist der Mann neben Marian, der sich gerade umgedreht hat?«, fragte ich Gerda leise.
    »Ihr Mann. Neil Carruthers.«
    Ich versuchte, mich wieder auf die einleitenden Worte von Jeffrey Holcomb zu konzentrieren. Er war sehr groß und schlank und hatte einen eckigen Kopf, was durch seine altmodische Brille noch betont wurde. Er sprach unverkrampft, ohne akademische Steifheit, rief den besonderen Anlass des Vortrags in Erinnerung, skizzierte den Werdegang von David Lavell, den kennen und schätzen zu lernen er bereits in Yale das Vergnügen gehabt habe. Ich wusste schon, dass David aus Portland stammte und auf welchen Colleges und Universitäten er zuvor gewesen war. Neu war mir nur, welche Begabtenstipendien er neben dem Mellon Grant noch alle bekommen hatte. Das INAT, so fuhr Holcomb fort, schätze sich glücklich, einen so vielversprechenden jungen Wissenschaftler in seinen Reihen zu haben, weshalb er vom Institut für die diesjährige Hillcrest-Talent-Lectures ausgewählt worden sei. Er sei sicher, dass David dieser besonderen Ehre mehr als gerecht werden würde. Die letzten Worte, mit denen Holcomb die Bühne für seinen Star freigab, hörte ich nicht mehr, weil sich mein Blick in Janines schwarzen Locken und meine Gedanken in diffusen Erinnerungen an den darunter befindlichen Nacken verloren hatten. Was für eine merkwürdige Situation. Applaus lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf David, der sich nun erhob. Mit einem Stich im Herzen registrierte ich, dass Janines linker Arm sich kurz hob und dann wieder senkte. Mein Gott, hatten sie die ganze Zeit Händchen gehalten?
    Dann trat David ans Pult.

Kapitel 22
    »Meine Damen und Herren«, begann er. »Es war ursprünglich meine Absicht, Ihnen einige Gedanken zu Shakespeares Sonetten vorzutragen.«
    Während er sprach, senkte sich eine Leinwand von der Decke herab. David wartete geduldig, bis sie ausgefahren war. »Aus

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