Der gestohlene Abend
bezeichnet und vom Verleger als Master angesprochen. Dass Thomas Thorpe, ein Bürgerlicher, es gewagt haben soll, einen Lord oder Earl mit dem völlig unpassenden Wörtchen Master anzusprechen, glaubt wohl niemand ernsthaft, womit die adeligen Kandidaten von vornherein ausscheiden. Thorpe wusste genau, wie man gesellschaftlich höher stehende Menschen zu titulieren hatte, was seine anderen Widmungsblätter, wo Rang und Titel der Erwähnten immer absolut korrekt wiedergegeben sind, hinreichend belegen. Zu behaupten, Master W.H. beziehe sich auf Pembroke, Southampton oder sonst einen Adeligen, widerspricht jeglicher Etikette der Zeit und wäre ein absolut einmaliger Fall. Wenden wir uns der Frage zu, was ein begetter sein mag, so ist auch hier viel Verwirrendes gesagt worden. Interessanterweise hat es allerdings zunächst fast zweihundert Jahre gedauert, bis sich überhaupt jemand bereitfand, diese Formulierung seltsam zu finden. Shakespeares Zeitgenossen und die damaligen Käufer und Leser der Sonette scheinen sich jedenfalls nicht darüber gewundert zu haben. Zumindest ist diesbezüglich nichts überliefert. Erst 1799 kam George Chalmers auf die Idee, dass mit W. H. als dem begetter der Sonette in Wirklichkeit der getter des Manuskriptes gemeint sei, was James Boaden 1837 zu der Annahme bewegte, dies müsse natürlich im übertragenen Sinne gelesen werden. Mit dem begetter sei die Muse, die inspirierende Kraft gemeint, welche die Sonette gezeugtl habe. W.H. könne somit nur die Person sein, welche Shakespeare zu den Sonetten inspiriert habe.«
David machte eine Pause und blickte ins Publikum. Aha, dachte ich. Jetzt geht es los. Er wird sich das Wort to beget vorknöpfen und es nach der Manier zum Flirren bringen, die Gerda mir beschrieben hatte. Aber etwas ganz anderes geschah.
»Ich habe mir nun einmal die Mühe gemacht und die Widmungstradition des 15., 16. und 17. Jahrhunderts etwas genauer untersucht. In annähernd tausend Widmungstexten dieser Art bin ich auf keinen einzigen Fall gestoßen, wo das Verb to heget oder der davon abgeleitete hegetter im Zusammenhang mit Gedichten oder sonstigen Texten etwas anderes als den Autor bezeichnet hätte. Die Metaphorik des Zeugungsaktes für das künstlerische Schaffen war fest etabliert. Unter dem hegetter verstand man immer nur den Autor. Ich habe kein einziges Beispiel gefunden, wo etwa ein Übersetzer, Kommentator, Verleger, Abschreiber, Verfasser von Anthologien oder Plagiator so bezeichnet worden wäre. Im Gegenteil. In der Widmungstradition der Renaissance war die Betrachtung eines Textes als Nachkommenschaft eine der meistverbreiteten Metaphern überhaupt und wurde sogar sehr differenziert eingesetzt. Übersetzer galten als Adoptivväter oder als Stiefväter, Übersetzungen entsprechend als Stiefkinder, meist als Stieftöchter. Drucker, Verleger und Herausgeber wurden immer wieder als Hebammen bezeichnet, Plagiate und auch Abhandlungen religiöser Gegner als Bastarde, posthume Werke als Waisen, deren sich der Herausgeber als Vormund oder Pate angenommen hat. Wenn Thomas Thorpe mit dem hegetter der Sonette irgendjemand anderen gemeint hat als deren Autor, so wäre seine Wortwahl für die gesamte Renaissance absolut einmalig.«
Es war jetzt sehr still im Saal. Ich spürte, dass Gerda sich zu mir herübergelehnt hatte.
»Ich glaube, wir sind im falschen Film«, flüsterte sie.
Ich antwortete nicht. Was David bisher vorgetragen hatte, war solide, konventionelle Philologie. Revolutionär kam es mir jedenfalls nicht vor. Aber vielleicht kam das Eigentliche ja erst noch.
»Gegen die Annahme, dass sich W H. irgendwie auf Shakespeare beziehen soll, spricht nun aber der zweite Teil der Widmung, wo wir unseren unsterblichen Dichter haben, der ein Ewigkeits- oder Unsterblichkeitsversprechen für W.H. bereithält. Es macht ja wenig Sinn, in einer Widmung zu sagen: ich wünsche, der Dichter möge durch die nachfolgenden Sonette die Unsterblichkeit gewinnen, die er selbst verspricht. Ja, in der ganzen mehrhundertjährigen Kontroverse um Thomas Thorpes Widmung gibt es nur einen Punkt, in dem sich gleichsam alle Kommentatoren einig sind: Mit unserem unsterblichen Dichter kann niemand anderes als Shakespeare gemeint sein.«
Die Stille im Saal war noch eindringlicher geworden. Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Der Einzige, der davon völlig unberührt schien, war David.
»Im Rückblick mag man bei der Formulierung unsterblicher Dichter in der Tat an
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