Der gestohlene Abend
nämlich Gott, der Autor der Schöpfung, uns versprochen hat. So einfach war das. Es blieb zwar vorerst noch die Frage, warum Shakespeare als W.H. bezeichnet worden war, aber ich war mir sicher, David würde auch darauf eine Antwort parat haben. Sonst hätte er sich nicht so weit vorgewagt. Ich schaute gespannt auf das Widmungsblatt, das nun wieder auf der Leinwand erschienen war. Warum kam ich nicht selbst darauf? Es war doch so augenfällig. Aber ich sah es erst, als David es dem ganzen Publikum zeigte.
Er genoss sichtlich die Spannung, die er erzeugt hatte, spielte eine Quelle nach der anderen aus, um seine These gegen jeden möglichen Einwand abzusichern. Und nichts schien er so sehr zu genießen, wie den Todesstoß, die Entlarvung eines Geheimnisses, das gar keines war.
»Wenn nun aber der unsterbliche Dichter niemand anderes ist als Gott und der Schöpfer der Sonette ihr Autor, also Shakespeare, warum spricht Thorpe dann von einem Master W.H.? Mit der These, dass Shakespeare nicht der Autor der Sonette ist, sollen sich gerne andere Leute beschäftigen. Dass Thorpe die Autorschaft geheim halten wollte, kann auch nicht sein, denn im Titelkupfer wird Shakespeare ja genannt. Katharine Wilson hat behauptet, Thorpe habe nur einen Witz machen wollen. Wie Banstorff glaubt sie, W H. stehe für William Himself und der unsterbliche Dichter sei Shakespeare, dessen Unsterblichkeit Thorpe dem Dichter selbst wünsche, als doppelte Versicherung sozusagen. Nun ja, ich überlasse es Ihnen, dergleichen plausibel zu finden. Wobei ich von der schier unüberschaubaren Menge zeitgenössischer Thesen lieber gar nicht sprechen will. Ganze Schulen subversiver Texttheorien haben sich im Schatten von W H. gebildet und davon ausgehend Dinge in die Sonette hineingeheimnist, die weder Hand noch Fuß haben.«
Marian stand auf und verließ den Raum. Gerda knuffte mich.
»Hast du das gesehen?«, flüsterte sie. Ich war sprachlos und nickte nur. Winfried lehnte sich vor und schaute an uns vorbei zu Theo hinüber, der seinen Blick feixend erwiderte.
»Das ist ja ein Königinnenmörder«, sagte Gerda leise. Dann war wieder Davids Stimme zu hören.
»Schauen Sie sich nun bitte noch einmal ganz aufmerksam diese Widmung an.« Man hörte das Klackern des Diaprojektors, mit der eine Nahaufnahme der umstrittenen Textstelle auf der Leinwand erschien.
M R . W. H. ALL.HAPPINESSE.
»Fällt Ihnen nichts auf?«, fuhr David fort. »Ist es nicht wahrscheinlich, dass die merkwürdige Leerstelle zwischen den Buchstaben H und A darauf hinweist, dass hier beim Setzen ein Buchstabe verloren gegangen ist? Es mag zwar banal klingen, aber die schlüssigste Erklärung für unser Problem, die uns weder dazu zwingt, die Widmungstradition der Renaissance zu ignorieren, noch Thomas Thorpe für einen Witzbold zu halten, ist einfach diese: W H. ist nichts als ein Druckfehler. Vielleicht der folgenschwerste Druckfehler der Literaturgeschichte. Aber mehr auch nicht.«
Es war jetzt totenstill im Saal. War Marians Verschwinden daran schuld? Oder das letzte Puzzlesteinchen, das jeder selbst hätte entdecken können, denn es war ja immer da gewesen, von Anfang an, vor aller Augen. Aber niemand hatte es gesehen.
»Bravo!«, rief jetzt jemand in die Stille hinein. Der Ruf kam aus den Reihen hinter uns. Diesmal zischte niemand mehr.
»Nur an einer einzigen Stelle im ganzen Widmungstext«, fuhr David fort, »stoßen wir auf eine Leerstelle zwischen den Wörtern oder Buchstaben. Ansonsten dienen stets Punkte dazu, die Wörter voneinander abzusetzen. Falls es sich, wie ich glaube, um einen Druckfehler handelt, so ist er auch leicht zu erklären. Thorpe druckte die Bücher, die er herausgab, nicht selbst. Wäre er sowohl der Herausgeber als auch der Drucker gewesen, wäre ihm dieser Fehler wahrscheinlich nicht unterlaufen oder, falls doch, so hätte er ihn gewiss korrigiert, ebenso wie die weiteren Druckfehler, die wir in der Quarto-Ausgabe finden. Manche dieser Fehler sind ganz offensichtlich durch Flüchtigkeit entstanden, andere nachvollziehbarerweise das Ergebnis von unleserlichen Stellen im Originalmanuskript. In den dreizehn noch existierenden Originaldrucken gibt es nur ganz wenige Fälle, wo vereinzelt Korrekturen vorgenommen worden sind. Berücksichtigt man nun auch noch die nicht gerade gute Reputation des Druckers sowie die Tatsache, dass das Korrekturlesen damals sehr lässig gehandhabt wurde, so fragt man sich, warum man W. H. jemals als etwas anderes als einen
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