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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Shakespeare denken. Ja, vermutlich ist er sogar der Erste, der uns dabei heute in den Sinn kommt. Aber wie hat sich das aus der Sicht eines Zeitgenossen von 1609 dargestellt? Außer Theaterstücken hatte Shakespeare seit fünfzehn Jahren nichts geschrieben. Und die Stücke waren zwar Kassenknüller, blieben jedoch in den meisten Fällen ungedruckt. Schaut man sich die zeitgenössische Kritik an, so glimmt Shakespeares Stern nur mäßig im Vergleich zu den strahlenden Gestirnen seiner Epoche wie etwa Spenser, Sidney, Raleigh, Drayton, Lodge oder Daniel. Shakespeare wird fast immer in einer Reihe mit zweit- oder drittrangigen Dichtern erwähnt. In Anthologien und Zitatbüchern der Zeit ist er nur spärlich vertreten. Die Sonette wollte kaum jemand lesen. Während Draytons Sonette zwischen 1599 und 1620 neun Auflagen erlebten, wurden von der Quarto-Ausgabe so wenige Exemplare verkauft, dass ein Nachdruck sich nicht lohnte. Noch 1640 wurden nur acht der hundertvierundfünf-zig Sonette in einer billigen Anthologie nachgedruckt. Erst 1709, also hundert Jahre später, wurde die erste Neuauflage vorgenommen, vielleicht ein Zeichen dafür, dass Thorpes Wunsch, der Autor der Sonette möge unsterblich werden, allmählich in Erfüllung ging. Fest steht: Um 1609 war Shakespeare alles andere als ein unsterblicher Dichter.«
    Während die erste Reihe bisher in einer seltsamen Erstarrung verblieben war, kam jetzt Bewegung auf. Jeffrey Holcomb hatte sich erhoben und war gebückt zu Marian gegangen. Kaum dort angekommen, hatte Neil Carruthers sich erhoben. Jeffrey Holcomb nahm neben Marian Platz, und die beiden steckten die Köpfe zusammen, während Neil Carruthers sich auf Jeffreys leeren Platz begab. David wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, bevor er weiter sprach.
    »Ich habe nun erneut eine ziemlich umfassende Sichtung von Renaissance-Texten vorgenommen und eine interessante Entdeckung gemacht: Ich bin nämlich auf keinen einzigen Fall gestoßen, wo die Bezeichnung unsterblich für einen lebendigen, sterblichen Menschen benutzt wurde. Nicht einmal Lobgesänge auf Königin Elisabeth, wo man derartiges noch am ehesten erwarten würde, weisen solche Formulierungen auf. Ist vorstellbar, dass Thomas Thorpe einen anderen Dichter im Sinn hatte, dessen Unsterblichkeit er für den Autor der Sonette ersehnte, Sidney oder Spenser etwa? Das scheint eher unwahrscheinlich, da keiner der beiden Konkurrenten sich dabei hervorgetan hat, dem Schöpfer der Shakespeare-Sonette ein ewiges Leben verschaffen zu wollen.«
    Wieder machte sich Erheiterung im Saal breit. Ich war mittlerweile enorm gespannt auf den Fortgang. Mochte es eben ein philologischer Vortrag sein und keine neuästhetische Analyse eines der Sonette; spannend und beeindruckend war Davids Argumentation auf alle Fälle. Neidvoll dachte ich daran, dass er nur zwei Jahre älter war als ich selbst. Scheinbar wie mit links jonglierte er mit vierhundert Jahren Forschungsgeschichte zu einem der geheimnisumwobensten Renaissancetexte. Das musste ihm erst einmal einer nachmachen. Und wie es aussah, hatte er noch einige Pointen auf Lager. Die nächste erschien mir einfach grandios.
    »Es gibt einen sehr viel wahrscheinlicheren Kandidaten«, fuhr er fort, »denn der Zusatz unsterblich scheint in Renaissancetexten am häufigsten dann auf, wenn von Gott die Rede ist. Ich habe Ihnen hier einmal nur eine kleine Auswahl der bekannteren Stellen mitgebracht.«
    Ein neues Dia erschien auf der Leinwand mit einer Fülle von Textstellen.
    »Ich habe sie alle überprüft: Coverdale, Marlowe, Sidney, Herbert, Breton, Johnson, Hooker und sogar Sir Isaac Newton. Unsterblich war ihnen immer nur einer: Gott. Es ist also nicht ganz unwahrscheinlich, dass Thomas Thorpe mit dem unsterblichen Dichter niemand anderen gemeint hat als unseren Herrn, den Vater im Himmel, oder, wie man damals auch zu sagen pflegte: den Autor der Schöpfung.«
    Ein überraschtes Raunen ging durch den Raum. »Wow!«, hörte man aus einer Ecke, gefolgt von zwei-, dreimaligem Händeklatschen, dass durch zorniges Zischen aus einer anderen Ecke des Saals erfolgreich zum Verstummen gebracht wurde. »Genial«, hörte ich Winfried neben mir flüstern.
    Ich bohrte meinen Blick in Janines Rücken. Aber sie starrte nur David an. Was für eine geniale Analyse! Es war ja so offensichtlich, wenn man erst einmal daraufgekommen war: Thomas Thorpe wünschte dem Autor der Sonette, Master W H, jene Unsterblichkeit, welche der unsterbliche Dichter,

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