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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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heißt hier halblang? Warum hat er denn nicht Holcomb oder Krueger angegriffen, wenn er dem INAT eins auswischen wollte? Warum Marian? Warum ausgerechnet sie? Weil sie eine Frau ist. Das ist alles. Wahrscheinlich erträgt es das Ego dieses Früchtchens einfach nicht, dass sie ihm haushoch überlegen ist. Wie soll man so eine Gemeinheit sonst erklären?«
    »Vielleicht war zwischen den beiden irgendetwas, worüber wir nichts wissen«, versuchte Theo sie zu besänftigen. »Irgendetwas Privates. Und David war unklug genug, seine sensationelle Idee dafür zu nutzen, sie öffentlich ein wenig herauszufordern. Sie zu provozieren. Ich denke, wir sollten das nicht überbewerten. Vielleicht tut es ihm sogar leid? Sein Ehrgeiz ist mit ihm durchgegangen. Das kann doch sein, oder? Es steckt bestimmt etwas Privates dahinter.«
    Gerda stellte ihr Bier ab und erhob sich.
    »Etwas Privates«, sagte sie höhnisch und schaute von einem zum andern. »So, so.« Ich fragte mich, warum in diesem Raum plötzlich eine so merkwürdige Frontlinie verlief. Ich hatte an der Diskussion überhaupt nicht teilgenommen, aber es schien ausgemacht, wo ich stand. Da war Gerda, und da waren wir: wir Männer.
    »Was zwischen Männern und Frauen privat ist, passt gerade mal in ein Doppelbett«, sagte sie. »Und selbst das ist wahrscheinlich eine Illusion. Als ob ich euch das erklären müsste. Gute Nacht.«

Kapitel 24
    »Bist du zu Hause?« i;
    Ich war erst zehn Minuten zuvor zurückgekommen. Es war nach Mitternacht.
    »Ja.«
    »Ich muss dich sehen.« Janine legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Aber sie kam nicht. Ich lag bis zwei Uhr wach. Dann fielen mir die Augen zu.
    Am nächsten Tag war sie nirgends zu finden, weder im Pool, noch in einer der Cafeterias. Ich wollte sie in der Bibliothek suchen, musste jedoch feststellen, dass diese heute ausnahmsweise geschlossen war. »Reinigungs- und Wartungsarbeiten. Wiedereröffnung Samstag 08:00«, stand auf einem Schild. Für einen Freitag war der Campus merkwürdig leer. Anscheinend war ich der Einzige, der das lange Wochenende bis zum Beginn des nächsten Trimesters nicht für einen Kurzurlaub nutzte. Sollte ich zu ihrer Wohnung gehen? Ihre Telefonnummer hatte ich nicht. Sie war es, die bei mir anrief. Als ich gegen Mittag in mein Zimmer zurückkehrte, hatte sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.
    »David hat mich gebeten, mit ihm wegzufahren. Ich konnte nicht Nein sagen. Ich brauche das Wochenende, um alles zu klären. Ich denke die ganze Zeit an dich. Bitte gib mir diese drei Tage.«
    Drei Tage. Was konnte in drei Tagen nicht alles passieren? Ich begann, herumzutelefonieren. Theo nahm nicht ab. Winfried hatte Besuch aus Deutschland und würde in ein paar Stunden aufbrechen, um nach Las Vegas und dann durch das Death Valley zu fahren. Sogar bei Gerda rief ich an. Aber die hatte mit ihrem Mann zusammen eine Einladung zu einem Segeltörn. Alle hatten etwas vor, außer mir, der vor lauter Abgabestress überhaupt nicht daran gedacht hatte, diese drei geschenkten Tage zum Verschnaufen einzuplanen.
    Der einzige helle Moment an diesem Freitag war der Augenblick, als Marians Sekretärin mich anrief und mir mitteilte, ich könne meine Unterlagen im Sekretariat abholen. Sie lägen in meinem Fach. In meinem Fach? Ich ging sofort ins Institut. Es war genauso verwaist wie der restliche Campus. Der Stehtisch, an dem David mit Janine gestanden hatte, war noch da. Catherine saß nicht an ihrem Platz. Nur eine halbvolle Kaffeetasse neben ihrem grauen Macintosh zeigte an, dass sie in der Nähe sein musste. Ich ging um den Empfangstresen herum in den kleinen Nebenraum, wo die Postfächer untergebracht waren. An einem der Fächer stand tatsächlich mein Name. Ich zog den Stapel Blätter heraus, der darin steckte. CompLit303 stand auf dem Deckblatt. Ich fand eine Kursbeschreibung, eine Teilnehmerliste, eine allgemeine Literaturliste und ein zusätzliches Blatt mit Lektürevorgaben, die nur für mich bestimmt waren. Ich überflog die Titel. Kurzurlaub wäre für mich ohnehin nicht infrage gekommen.
    Meine Mitstudenten hießen Jacques Sroka, Tom Brendan, Mark Hanson, Julie Verassi und Parisa Khavari. David stand auch auf der Liste. John Barstows Bemerkung war mehr als zutreffend gewesen. Ich versuchte mir die unmögliche Situation vorzustellen, wenn die Teilnehmer dieses Seminars am kommenden Dienstag das erste Mal zusammenkommen würden: David in offener Revolte gegen Marian; ich als Anfänger in dieser

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