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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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endlich ihre Telefonnummer und sagte mir Dinge, die es mir schwer machten, nicht gleich wieder zu ihr zu gehen. Aber sie verbot es mir, verschrieb uns zudem drei Tage Kontaktverbot und erklärte, dass sie sich trotz allem zusammenreißen müsse. Die nächsten zehn Wochen würden sonst unweigerlich in einer universitären Katastrophe enden, was sie, deren Eltern Tausende von Dollar für ihr Studium bezahlten, sich keinesfalls leisten konnte. Am Mittwochabend könnten wir uns sehen, und am Sonntag vielleicht aufs Meer hinausfahren und Wale beobachten. Kurz bevor wir auflegten, brachte sie noch den Gedanken ins Spiel, dass wir Weihnachten zusammen in Paris verbringen könnten. Die Wohnung ihrer Mutter dort sei frei, da ihre Eltern nach Hawaii fliegen würden. Dass ich gar kein Geld für einen Heimflug besaß, verdrängte ich sofort und sah mich stattdessen in meinen Tagträumen schon vor Sacre-Cceur mit ihr stehen.

Kapitel 26
    Als ich am Montag vom Schwimmen zurückkam, stauten sich auf den Zufahrten zu den Parkplätzen die Wagen der auswärtigen Studenten. Vor dem Einschreibungsbüro traf ich Gerda, die sich beim Segeln einen üblen Sonnenbrand auf den Lippen zugezogen hatte und daher kaum sprechen konnte. Sie murmelte ein paar Erklärungen über ihren Zustand und erwähnte mit keinem Wort den Streit bei Winfried, was mir ganz recht war.
    Ich schrieb mich für die beiden Kurse ein, die mir noch fehlten, und ging dann zuerst ins Englisch-Department, um den Dozenten des Robinson-Crusoe-Kurses aufzusuchen. Er war sogar in seinem Büro, einem durch Bücherstapel komplett unbrauchbar gewordenen Raum, in dem nur in einer Ecke ein wenig Platz für eine schwenkbare Computerkonsole und einen Sessel geblieben war. Dr. Harold Shawn saß dort und las das Times Literary Supplement. Ich stellte mich vor. So, Berlin, das sei ja eine interessante Stadt, die er leider nicht kenne. Ja, heute Nachmittag sei die erste Sitzung. Schön, dass ich mitmachen wolle. Die Unterlagen für den Kurs bekäme ich am Nachmittag. In der Norton-Ausgabe sei aber das meiste drin, worüber wir sprechen würden. Ich hatte das Gefühl, den richtigen Mann gefunden zu haben. Shawn war der Typ Professor, der kein großes Interesse am Unterricht hatte und dafür im Gegenzug auch keine besonderen Leistungen erwartete. Seine Publikationsliste, wie ich später erfuhr, war endlos. Er war ein Forscher, der vor allem seine Ruhe wollte. Genau das Richtige für meine Zwecke. Ich ging kurz im Buchladen vorbei und besorgte mir die für den Kurs empfohlene Norton-Ausgabe von Defoes Roman, das hiesige Pendant zu Königs Erläuterungen. Kurzzeitig verachtete ich mich dafür, solch einen Kurs zu belegen. Aber eine bessere Lösung für meine Situation fiel mir nicht ein.
    Am Institut für Kreatives Schreiben herrschte eine ganz andere Stimmung. Von allen Departments, die ich bisher betreten hatte, war dies das gemütlichste. Der Empfangsraum vor dem Sekretariat sah aus wie eine Teestube. An den Wänden hingen große Porträtaufnahmen arrivierter Autorinnen und Autoren. Ein Foto der Dozentin meines Kurses hing dort auch. Robin Anderson stand unter dem Foto einer lächelnden Frau mit krausen, hellbraunen Locken, Nickelbrille und einem etwas länglichen Gesicht ohne besondere Auffälligkeiten. Ein Zeitungssauschnitt war darunter an die Wand geklebt. Sie war Jahrgang 1955, hatte Drama und Politik studiert, eine stattliche Zahl mir völlig unbekannter Preise für Kurzgeschichten gewonnen und fast ebenso viele Autoren-Stipendien erhalten. Darunter hingen lobende Kritiken aus verschiedenen Tageszeitungen. An einer Pinwand entdeckte ich die Kurspläne. Ich verglich die Nummer auf meinem Einschreibungsblatt mit der Übersicht, fand meinen Kurs und stellte fest, dass wir zwanzig Teilnehmer waren. Ich überflog die Namen, notierte mir noch die Raumnummer und gab meinen Zettel der Sekretärin. Damit war alles erledigt.
    In Hinausgehen traf ich Theo. Er sah gar nicht erholt aus.
    »Das ganze Wochenende im Bett«, sagte er kurz angebunden. »Magen. Ich bin nicht mal ans Telefon gegangen, tut mir leid.«
    »Geht's jetzt wieder besser?«
    »Hm, so lala. Sei froh, dass du bei Winfried nichts gegessen hast. Ich bin sicher, es war der beschissene Krevettensalat.«
    »Vielleicht ist dir Gerdas Wutausbruch nicht bekommen?«
    Sein Gesicht hellte sich kurz auf. »Ja, das war heftig. Na ja, sie wird sich wieder beruhigt haben. Hast du das Enfant terrible schon getroffen?«
    »Aber du machst doch

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