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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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allmählich wurde die Sonne stärker und brannte den Dunst weg. Wir passierten Corona del Mar, Laguna Beach, Dana Point. Alle paar Minuten gab die Straße einen noch schöneren Blick auf die malerisch daliegenden Küstenstädtchen frei. Irgendwann bogen wir ab und folgten einer von Villen gesäumten Straße, die sich zum Strand hinabschlängelte. Wir parkten an der Strandpromenade. Der Parkplatz war so gut wie leer. Sie ergriff meine Hand und lenkte unsere Schritte auf einen Pier zu, der ein ganzes Stück weit in das Meer hinausgebaut war. Wir gingen an Anglern vorbei, die stumm auf das Wasser starrten oder damit beschäftigt waren, blutige Würmer auf ihre Haken zu spießen. Es roch nach Fisch und Seetang. Möwen kreisten über unseren Köpfen und krächzten. Der Wind blies Janines Haare durcheinander, und sie musste mich loslassen, weil sie beide Hände brauchte, um sie zu bändigen. Nach ein paar Minuten erreichten wir das Restaurant am Ende des Piers. We serve breakfast. Delicious Chowder. No credit. Es war nur ein einfacher Diner, aber in was für einer Lage! Wir waren die ersten Gäste. Janine ging zielstrebig auf einen Tisch am Fenster zu und setzte sich.
    Der Ort war ideal. In drei Himmelsrichtungen nichts als Wasser und landwärts nur ihr Gesicht, leicht gerötet von der frischen Morgenluft. Wir bestellten und warteten händchenhaltend auf den Kaffee und die Muffins. Sie wollte wissen, was ich gestern gemacht hatte, und ich erzählte es ihr.
    »Lustig, nicht wahr?«, sagte sie. »Jetzt bist du drin, und David ist draußen. Man könnte meinen, du hättest ihn auf der ganzen Linie ersetzt.«
    Ich fand das gar nicht komisch.
    »Am Dienstag sitzen wir im gleichen Seminar.«
    »Das bezweifle ich.«
    »Ich habe gestern die Teilnehmerliste gesehen. David steht drauf.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Warten wir's ab.«
    »Kennst du die anderen eigentlich?«, fragte ich und zählte zwei Namen auf, an die ich mich erinnerte.
    »Ja, klar«, antwortete sie. »Die hängen ja immer zusammen.«
    Ich wollte sie fragen, wer der blonde Student war, der David nach der Lecture den Finger gezeigt hatte, aber sie kam mir zuvor.
    »Ich habe David gestern alles erzählt«, sagte sie und verstummte wieder. Sie nahm eine Zigarette aus dem Päckchen. Ich gab ihr Feuer.
    »Wir sind zwei Stunden gefahren. Dann kam es mir unmöglich vor, ein ganzes Wochenende mit ihm zu verbringen. Ich bat ihn, anzuhalten und dann habe ich ihm gesagt, dass ich etwas mit dir habe.«
    Sie schaute mich unsicher an. Ich versuchte zu lächeln.
    »Willst du nicht wissen, was er gesagt hat?«
    »Doch.«
    »Er wollte wissen, seit wann.«
    »Und du hast es ihm gesagt.«
    »Ja. Sicher.«
    »Und dann?«
    »Dann hat er mich gefragt, ob ich in dich verliebt sei. Ich habe Ja gesagt.«
    Ich wollte ihr um den Hals fallen, aber ich griff nur nach ihrer freien Hand und küsste sie.
    »Daraufhin hat er den Motor gestartet, und wir sind umgekehrt. Wir haben während der ganzen Rückfahrt geschwiegen. Ich habe ihn abgesetzt und bin zu dir gefahren. Er packt heute und wird zu einem Freund ziehen.«
    Die Bedienung brachte das Frühstück, und wir sahen schweigend zu, wie sie unsere Bestellung auf dem Tisch abstellte. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Sie hatte gesagt, sie sei in mich verliebt. Aber sie sah nicht verliebt aus, sondern traurig. Ernst. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, aber alles klang dumm und nichtssagend. Sie schien das zu spüren.
    »Ich will jetzt nicht viel reden. Ich habe die letzten Wochen so viel geredet. Ich will das jetzt erst einmal vergessen. Wir frühstücken, und dann gehen wir an den Strand, einverstanden?«
    Wir verbrachten das ganze Wochenende zusammen, allerdings nicht am Strand, sondern in meinem Studio. Und wir redeten kaum. Wir hatten Besseres zu tun.
    Der unweigerliche Absturz erfolgte am Sonntagabend. Wir aßen in einem Denny's zu Abend. Danach bat sie mich, sie zu ihrer Wohnung zu begleiten. Ich hatte die beiden Räume noch nie gesehen, aber man sah auch so die Spuren, die von ihrem verschwundenen Mitbewohner zeugten: ein Nagel an der Wand, an dem kein Bild mehr hing; staubige, leere Stellen im Bücherregal; ein mit Habseligkeiten gefüllter Karton vor dem Fenster, der entweder vergessen worden war oder darauf wartete, noch abgeholt zu werden. Janine wirkte auf einmal angespannt. Ich spürte, dass sie es vorzog, diese Spuren allein zu beseitigen. Also ging ich. Gegen halb elf rief sie mich an, gab mir bei dieser Gelegenheit auch

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