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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sicher eingeschworenen Gruppe; dazu mein Verhältnis mit Janine, worüber David bis Dienstag mit Sicherheit Bescheid wissen würde. Ich dachte an den blonden Studenten, der David am Ende seines Vortrags wütend den Finger gezeigt hatte. Er stand bestimmt auch auf dieser Liste. War er Jacques? Oder Tom?
    Ich verließ das Institut, überquerte den leeren Parkplatz und kehrte bedrückt in mein Zimmer zurück. Ich fühlte mich so einsam wie seit meiner Ankunft vor zehn Wochen nicht mehr. Ich rief erneut bei Theo an. Aber wieder war da nur der Anrufbeantworter. Ich hinterließ keine Nachricht. Marians Literaturliste drückte meine Stimmung auf den Tiefpunkt. Zum Teufel mit diesem Studium. Ich warf die Blätter in die Ecke und starrte voller Verachtung mein miserables kleines Zimmer an. Dann nahm ich ein leeres Blatt zur Hand und begann, einen langen Brief an meinen Bruder zu schreiben. Als ich fertig war, war es dunkel draußen. Sieben Seiten hatte ich vollgeschrieben. Natürlich würde ich keine einzige davon abschicken. Was sollte mein armer Bruder mit diesem Gejammer anfangen?
    Ich nahm den kommentierten Kurskatalog zur Hand. Spätestens am Montag musste ich mich für zwei weitere Kurse einschreiben. Der viktorianische Roman. Das schied schon vom Umfang her aus. Emerson, Thoreau und die amerikanischen Transzendentalisten. Auch nicht gerade als lockeres Beiprogramm geeignet. Faulkner. Die Romane. Ich blätterte weiter. Auf der nächsten Seite wurden die Angebote etwas schillernder, das Lesepensum jedoch nicht unbedingt geringer. Der schwarze, innerstädtische Roman der Sechzigerjahre. Geschlechtsbilder früher feministischer Lyrik. Popkultur und Mythenbildung. Auf der nächsten Seite waren die Kurse der Hillcrest School of Creative Writing verzeichnet. Theos Institut. Die Kunst des Dialogs. Wie recherchiert man für einen historischen Roman? Übungen zur Genreliteratur. Dontget it right, justget it written. Dieser letzte Titel klang interessant. Machs nicht richtig, sondern fertig, oder so ähnlich. Ich las die Beschreibung. Es ging um die berüchtigten Schreibblockaden und um Strategien, wie sie zu überwinden waren. Keine Literaturliste! Einziger Leistungsnachweis: eine geschriebene Seite pro Tag. Jeden Tag! stand extra dabei. Auch samstags und sonntags. Zwei Seminarsitzungen pro Woche. Ich markierte den Kurs. Eine Seite pro Tag. Über irgendein Thema. Das konnte ich leicht nebenher erledigen. Ich blätterte weiter, suchte die Spalten nach weiteren Kursen ab, die ein Minimum an zeitlichem Aufwand versprachen. Eine halbe Stunde später hatte ich den Kurs gefunden. Robinson Crusoe im Spiegel seiner Leser. Von Pope bis Joyce. Das war leicht zu schaffen. Zusammenzufassen, was Edgar Allen Poe, Karl Marx oder Virginia Woolf zu der Schiffbrüchigengeschichte zu sagen hatten, dürfte nicht allzu zeitraubend sein.

Kapitel 25
    Mitten in der Nacht stand sie vor meiner Tür. Nachdem ich geöffnet hatte, ging sie wortlos an mir vorbei ins Zimmer, ließ die kleine Tasche fallen, die sie dabeihatte, und setzte sich aufs Bett.
    »Kann ich hier schlafen?«
    Sie zog ihr Sweatshirt aus, entledigte sich ihrer Jeans und kroch unter die Decke.
    »Ich erzähle dir morgen alles«, sagte sie noch. »Ich bin völlig erschöpft.«
    Ihr Haar roch nach Zigaretten. Ich kuschelte mich an sie. Sie nahm meine Hände und drückte sie kurz gegen ihre Lippen. Dann rollte sie sich zusammen und drehte sich weg.
    Als ich am nächsten Morgen erwachte, hörte ich das Wasser in der Dusche rauschen. Wieso war sie hier? Waren sie doch nicht weggefahren? Sie trat aus der Dusche, ein Handtuch um ihren Körper, ein kleineres um ihren Kopf gewickelt. Sie lächelte mich an, setzte sich auf den Stuhl am Fenster und frottierte ihre Haare. Ich schaute sie nur an.
    »Na, so schweigsam heute?«, fragte sie.
    »Das Glück ist stumm«, sagte ich und strahlte sie an.
    »Hoffentlich nicht chronisch.«
    »Nein. Warum bist du so weit weg?«
    Sie hob die Augenbrauen. »Vielleicht habe ich Angst.«
    »Wovor?«
    »Vor deinen schönen Schwimmermuskeln.«
    »Aha, das habe ich mir gedacht.«
    »Was?«
    »Dass du wie alle bist und nur das Eine willst.«
    »Wieso nur das Eine? Vielleicht will ich ja alles?«
    »Warum kommst du dann nicht her?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »No, no. Wir machen einen Ausflug. Komm. Zieh dich an. Ich will dir etwas zeigen.«
    Kurz darauf saßen wir in ihrem Wagen und fuhren die Küstenstraße nach Süden. Das Meer war noch verhangen. Nur ganz

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