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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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dieses Trimester einen Kurs im INAT, oder?«
    »Ja. Aber es geht erst morgen los.«
    »Wenn du was hörst, erzählst du mir, was da am Donnerstag los war?«
    »Falls ich etwas höre, klar.«
    Der Gedanke, David zu begegnen, verursachte mir großes Unbehagen. Glücklicherweise wechselte Theo das Thema.
    »Was machst du denn hier bei uns?«
    »Don't get it right, just get it written. Robin Anderson. Ich dachte, ich probiere das mal aus.«
    Theo machte große Augen.
    »Schon wieder ein Abtrünniger. Ob da etwas ins Trinkwasser gelangt ist?«
    »Was soll denn das heißen?«
    »Erst David, der ins feindliche Lager wechselt, aber immerhin bei der Wissenschaft geblieben ist. Und jetzt du? Du wirst doch nicht heimlich einen Roman schreiben, oder?«
    Es machte ihm offensichtlich Spaß, mich aufzuziehen.
    »Warum feindliches Lager?«, fragte ich.
    »So wird über die Sache geredet. David hat sich mit seinem Vortrag angeblich exkommuniziert.«
    »Aber der Vortrag war genial.«
    »Giordano Bruno war auch genial. Das INAT will ihn rausschmeißen.«
    »Wie bitte?«
    »Habe ich gehört.«
    »Aber das war doch unglaublich gut.«
    Er senkte die Stimme, als gebe er ein Geheimnis weiter. »Ja, sicher. Aber der Ort und der Anlass waren nun mal unglaublich schlecht. Aber ich muss los. Und hey, Spaß beiseite: Ich finde es toll, dass du hier etwas machen willst. Wirklich, keine Ironie. Lass uns diese Woche doch mal was trinken gehen. Und wenn ich irgendwie helfen kann, sag Bescheid.«
    Die erste Sitzung des Robinson-Crusoe-Kurses zog nur so an mir vorüber. Ich dachte die ganze Zeit an David - auch weil ich dauernd an Janine dachte. Es gelang mir nicht, sie als etwas anderes als ein Paar zu sehen. Niemand wusste von der neuen Situation. Wie sollte ich mich denn nur verhalten? Wie würde er auf mich reagieren? Nach dem Kurs hätte ich beinahe Janine angerufen, als ich kurz zu Hause Station machte, um Bücher und Fotokopien abzuladen. Sie würde vermutlich wissen, wo ich ihn vielleicht erreichen könnte. Wäre es nicht besser, wenn unser Verhältnis geklärt wäre, bevor ich ihm in diesem Seminar begegnete? Vor lauter Unruhe und Nervosität ging ich auf dem Weg zur Bibliothek noch einmal im INAT vorbei. Aber natürlich hielt sich dort um diese Zeit weder David noch sonst jemand auf. Mein Weg war jedoch nicht ganz umsonst gewesen: Mein Postfach war frisch gefüllt. Ein offizieller Umschlag des Instituts steckte darin. Ich riss ihn sofort auf. Es war eine aktualisierte Teilnehmerliste von Marians Seminar. Ohne David.
    In der Bibliothek ging es drunter und drüber. Ich lief von Stockwerk zu Stockwerk und fand keinen Sitzplatz. Dabei war es schon recht spät. Ich kannte das Phänomen noch aus dem ersten Trimester. In der ersten Woche war kaum ein Durchkommen. Danach normalisierte sich der Betrieb, nahm sogar stetig ab, bis zehn Tage vor der Klausurwoche die Zustände dann wieder unerträglich wurden. Genervt folgte ich dem Beispiel anderer, setzte mich in der Nähe der bibliografischen Abteilung in eine Ecke auf den Boden, stapelte ein paar dickleibige theologische Wörterbücher, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand sie heute benutzen würde, zu einer Art Schreibtisch vor mir auf und arbeitete eben so.
    Dr. Shawn hatte uns einen anonymen Aufsatz fotokopiert. Wir sollten zum ersten Satz Stellung nehmen und außerdem raten, wer der Autor war. Der Text begann mit den Worten: »Ich hasse Bücher. Sie lehren die Menschen nur, über Dinge zu sprechen, von denen sie nichts verstehen.« Wie sollte ich zu so etwas Stellung nehmen? So ein dummer Satz. Wer hatte ihn wohl geäußert? Zur Auswahl standen: Voltaire, Nietzsche, Oscar Wilde und Rousseau. Wozu überhaupt so eine Übung? Oder war es ein Trick ä la Barstow? Stand der Satz womöglich irgendwo in Defoes Roman?
    Als ich aufsah, entdeckte ich ihn. Oder besser: Er hatte mich entdeckt. David stand keine fünf Meter von mir entfernt neben einem der Bücherregale und musterte mich. Ich erhob mich sofort und ging auf ihn zu.
    »Hallo David«, sagte ich.
    »Hi. Matthew. Wie geht's?«
    Das Lederband war wieder da, auch das weiße T-Shirt. Darüber trug er eine ausgebeulte alte Highschool-Jacke, von der man die Insignien entfernt hatte. Die Jeans kannte ich schon, es sei denn, er hatte mehrere von der gleichen Sorte, mit den gleichen Rissen darin.
    »Hast du fünf Minuten Zeit?«, fragte ich. »Ich würde gern mit dir reden.«
    »Worüber?«, fragte er.
    Ich schaute mich um.

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