Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
Überall saßen Studenten in Hörweite.
    »Hier sind viele Leute, findest du nicht? Wir könnten rausgehen.«
    »Zum Duell?«, fragte er spöttisch.
    Mir war überhaupt nicht nach Witzen zumute.
    »Wenn schon, dann gehen wir lieber zu mir«, sagte er und deutete auf die graue Metalltür, zu der er offensichtlich unterwegs gewesen war. »Dort drin ist es ruhig. Sollen wir?«
    Er war ein wenig größer als ich, aber sehr schlank, fast hager. In einem Zweikampf hätte ich bestimmt kein Problem mit ihm, dachte ich und wunderte mich sofort über den Gedanken. Er ging vor mir her, schloss die Metalltür auf, trat zur Seite und ließ mich vorangehen. Kaum war sie ins Schloss gefallen, hörte man nur noch das Rauschen der Klimaanlage.
    »Mikroklima«, sagte David. »Komm, hier geht's lang.«
    Er schloss eine zweite Tür auf, die in das Treppenhaus führte, das ich vor einigen Wochen irrtümlich betreten hatte.
    »Der Weg ist etwas umständlich«, erklärte er. »Das Archiv ist erst später angebaut worden, daher die ganzen Türen und Treppen.«
    Wir gingen ein Stockwerk abwärts und betraten ein Büro.
    »So, hier sind wir.«
    Es war endlich mal wieder ein Raum mit Fenstern. Allerdings war er ziemlich leer. Außer einem riesigen Schreibtisch und einer großen Fotokopiermaschine stand nicht viel darin. Hinter dem Schreibtisch führte eine Tür zu zwei weiteren Räumen, in denen auf Metallregalen große Archivboxen zu sehen waren. Die Wände waren beige gestrichen. Auf dem Schreibtisch stapelten sich blaue Mappen, aus denen gelbe Papierzungen heraushingen. David folgte meinem Blick.
    »De Vanders Arbeitsskizzen aus den Sechzigerjahren. Willst du mal sehen?«
    Bevor ich antworten konnte, hatte er mir schon eine der Mappen in die Hand gedrückt und ließ sich auf seinem Platz hinter dem Schreibtisch nieder. Ich blieb stehen und schaute kurz in die Mappe hinein. Die Notizen waren mit Bleistift geschrieben, Korrekturen oder Ergänzungen mit roter Tinte. Die Handschrift war schwer zu entziffern. Ich legte die Mappe wieder auf dem Tisch ab.
    »Also?«, fragte David und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Setz dich doch.«
    Ich nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz.
    »Ich wollte schon länger mal mit dir reden«, sagte ich. »Ja, ich weiß.« »Ah ja?«
    »Als wir uns letzte Woche bei Marian über den Weg gelaufen sind, habe ich gar nicht geschaltet. Dabei hat Janine ja von dir erzählt. Ein Gaststudent aus Deutschland, der zu Marian will und nicht zugelassen wird. Zitat Ende. Sie hat dich im Wagen mitgenommen. So fängt das oft an.« »So fing es aber nicht an.«
    »Ist ja auch egal«, erwiderte er. »Also, was willst du. Dich entschuldigen?« »Nein. Wofür?«
    »Ja. Wofür auch? Wenn du es nicht gewesen wärst, dann wahrscheinlich ein anderer.«
    »Ich ... es tut mir trotzdem leid. Ich weiß gar nicht so recht, was ich hier rede.«
    Wir schwiegen. Die Klimaanlage rauschte. »Ich habe nichts gegen dich. Janine hat entschieden. Sie ist ein tolles Mädchen. Wir hatten einfach kein Glück. Wie heißt es doch bei Kleist... über das Glück: Lockedfrom inside.« »Kannst du Deutsch?«, fragte ich. »Nicht sehr gut. Warum?«
    »Er hat ein anderes Wort benutzt. Nicht von innen, sondern inwendig verriegelt, das ist stärker.« »Was soviel bedeutet wie ...?« »Lockedfrom within«, versuchte ich. Er erwiderte nichts, sondern griff versonnen nach einem Kugelschreiber vor sich auf dem Tisch. Was redete ich hier nur? Warum war ich überhaupt hergekommen? Wie David so vor mir saß, konnte ich kaum glauben, dass es die gleiche Person war, die am Donnerstag diesen Vortrag gehalten hatte. Warum ließ er sich so gehen? Man hätte meinen können, der ungepflegte Stil sei eine intellektuelle Attitüde. Das hatte er doch nicht nötig. Am Donnerstag hatte ich verstanden, warum Janine nicht von seiner Seite wich. Jetzt versuchte ich zu verstehen, was sie eigentlich an ihm fand.
    »Ich habe gelesen, dass du nicht am Seminar teilnimmst«, sagte ich.
    »Du glaubst doch wohl nicht, dass das etwas mit dir zu tun hat, oder?«, antwortete er schroff.
    »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Falls aber doch, dann werde ich mich morgen abmelden.«
    »Quatsch. Marians Seminare sind mir scheißegal.«
    Der Kugelschreiber landete mit einem klappernden Geräusch wieder auf dem Tisch. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und über das Gesicht.
    Ich erhob mich.
    »Dein Vortrag war große Klasse, David«, sagte ich. »Wirklich beneidenswert.

Weitere Kostenlose Bücher