Der gestohlene Abend
Schade, dass die Situation so ist, wie sie ist. Ich gehe jetzt.«
Ich streckte meine Hand aus. Er schaute kurz darauf, zögerte, dann schlug er ein.
»Schönen Abend noch, Matthew.«
Ich ging rasch.
Kapitel 27
Ich hätte sie aufnehmen sollen, heimlich meinetwegen, die ersten Stunden in Marians Seminar. Ich versuchte, mir Notizen zu machen, das alles irgendwie mitzuschreiben, was sie in ihrer angenehm ruhigen Art vortrug. Die Verknüpfungen, die sie vornahm, die Begriffspaare, die sie gegeneinandersetzte, die Art und Weise, wie sie einen Text las, das alles war so brillant wie einleuchtend. Doch wenn ich mich später hinsetzte, um ihren Gedankengang noch einmal langsam nachzuvollziehen, zerfaserte mir alles sofort.
Davids Vortrag und die Tatsache, dass er dem Seminar fernblieb, fand keinerlei Erwähnung. Die fünf anderen, die mit mir hier saßen, wussten vermutlich Genaueres. Ich als Neuling und Fremder wurde weder eingeweiht noch in den ersten Sitzungen besonders beachtet. Ein Nicken, ein unverbindliches Hi, ein kurzes Where are you from?, gefolgt von ein paar unverfänglichen Fragen - das war alles.
Ich nahm das so hin und konzentrierte mich auf Marians Vortrag. Immerhin wurde mir rasch ein Prinzip klar, das immer wieder auftauchte. Es war um eine Stelle bei Schiller gegangen, einen Passus aus der Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts-, wo die Rede davon war, dass echte Weisheit von der Vernunft nicht eingeholt werden kann, also recht besehen außervernünftig sei. Über das romantische Paradox der gefühlten Wahrheit, die widersprüchliche Vermischung von Vernunft und Gefühl, war Marian dann auf einen Grundwiderspruch zu sprechen gekommen, den sie als Unvereinbarkeit von grammatischer und rhetorischer Lesart bezeichnete. »In der Romantik wird dieser Widerspruch ganz augenfällig, und wir werden bald sehen, wie Kleist ihn bis an die äußerste Grenze treiben wird, über die Ironie hinaus, übrigens weiter als irgendjemand sonst in seiner Generation. Nur Büchner wird an ihn anknüpfen, und viel später dann Kafka, wobei jedoch beide Autoren schon tief im Absurden stehen, im Abgrund, der zwischen Grammatik und Rhetorik klafft. Wichtig ist vor allem, dass jeder Text, ja alles Sprechen diesem Abgrund anheimfällt. Von Anbeginn. Denken Sie nur an die doppelte Mimesis in Piatons Staat.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Aber glücklicherweise war ich nicht der Einzige. Die fünf anderen konnten mit Marians Ausführungen offenbar auch nicht viel anfangen. Der blonde Student, der David nach seinem Shakespearevortrag den Finger gezeigt hatte, saß mir gegenüber. Er hieß Mark Hanson. Er verpasste selten eine Gelegenheit, zu signalisieren, dass er wusste, worauf Marian anspielte. Aber jetzt blieb auch ihm nichts anderes übrig, als sich verlegen Notizen zu machen. Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper in dieser Gruppe. Meine Strategie war es bisher gewesen, mich auf Marian zu konzentrieren, die ja zum Glück fast die ganze Zeit über sprach. Wenn sie eine Frage stellte, schaute ich auf mein Notizheft oder neugierig in die Runde. Bisher hatte ich auf keine ihrer Fragen auch nur den Ansatz einer Antwort gehabt. Am liebsten sah ich Julie Verassi an, weil sie von allen Anwesenden die natürlichste Erscheinung war: lange, rote Haare, blasser Teint, eine Haut, als könnte es durchregnen. Ein wenig schüchtern wirke sie außerdem. Die anderen verunsicherten mich alle. Vor allem Parisa Khavari. Sie war eine optische Tretmine, sehr attraktiv, mit strahlend blauen Augen, die so viel Charme versprühten wie eine schussbereite Kobaltkanone. Ich hütete mich davor, ihren Blicke auf mich zu ziehen und war froh, dass ich sie meist nur am äußersten Rand meines Blickfeldes wahrnahm. Jacques und Tom konnte ich noch nicht so recht einschätzen. Ich schielte zu ihnen hin, um zu sehen, ob sie vielleicht wussten, was eine doppelte Mimesis sein sollte. Aber Jacques drehte nur den Daumen seiner rechten Hand nach unten, während Tom auf seinem Bleistift kaute.
»Worum geht es denn in Piatons Republik?«, wollte Marian wissen.
»Er beschreibt den perfekten Staat«, antwortete Mark, der Alleswisser.
»Und wie sieht der aus? Welche Rolle spielen dort zum Beispiel die Dichter?«
»Keine. Sie haben nichts darin verloren.«
Immerhin musste man ihm zugestehen, dass er den Text tatsächlich kannte.
»Aha. Alle Dichter? Oder nur bestimmte?«
Damit war Mark Hansons Wissen erschöpft. Jedenfalls war die nächste Antwort
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